Umstrittene Wahlrechtsreform
Verzerrtes Stimmenverhältnis
Zu »Wahlrechtsreform im Schweinsgalopp«, 18./19.3., S.6; dasnd.de/1171803
Nun hat die AmpelKoalition ihren Vorschlag zur Reform des Wahlrechts beschlossen. Ziel: Reduzierung der Anzahl der Abgeordneten, Wegfall der Grundmandatsklausel. Grund: Wegen der Überhangs und Ausgleichsmandate ist der Bundestag auf aktuell 736 Abgeordnete angewachsen. Die Gesetzesänderung legt fest, dass die Sitzverteilung sich allein nach dem Zweitstimmenergebnis richtet, bei Wegfall der Überhangsund Ausgleichsmandate. Diese Reform festigt den Parteienstaat. Es verzerrt auch erheblich das wahre Stimmenverhältnis.
Auch dieses undemokratische Mehrheitswahlrecht verstößt gegen die Verfassung, gegen Artikel 38. Dort heißt es: »Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes.« In diesem Artikel ist nichts von Erst und Zweitstimmen, Fraktionszwang oder von der Parteienfinanzierung enthalten. Den Parteien wird nach Artikel 21 Grundgesetz nur eine Mitwirkung bei der politischen Willensbildung zugesprochen.
Nach diesen Artikeln der Verfassung kann es nur eine unmittelbare direkte Wahl von Personen geben. Vorschlag: Je Wahlkreis werden jene zwei Personen Mitglied des Bundestages, die die meisten Wählerstimmen erhalten haben. Bei 299 Wahlkreisen sind das 598 Abgeordnete. Da fällt das ganze Brimbumborium des jetzigen Wahlgesetzes weg. Das wäre eine echte Wahlreform. Aber das werden die Parteien verhindern! Siegfried Schneider, per E-Mail
Fünf-Prozent-Klausel reformieren
Wahlrechtsänderungen sind in einer Demokratie mit möglichst breiter Mehrheit vorzunehmen, so viel sollte klar sein. Mensch kann die Abschaffung der Grundmandatsklausel durch die Ampler als Angriff auf Die Linke sehen, so wie Jan Korte, angesichts der »Stärke« der Partei und des Einzugs 2021 nur über die drei Direktmandate. Aber mensch kann’s auch als konsequentere Durchsetzung des Verhältniswahlrechts begreifen, um »eine maßvolle Begrenzung der Bundestagsmandate hinzubekommen«, wie Saskia Esken (SPD). CSU und Linke drohen mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Ich frage mich, ob mensch sich nicht auf dem vorgezeichneten Weg lieber für den Fall oder die Veränderung der FünfProzentKlausel bei den Bundestagswahlen einsetzen sollte. Und die Direktwahlkreise sind ja auch sehr unterschiedlich mit potenziellen Wähler*innen ausgestattet. Das wären Ziele, für die die Parteiführung vielleicht auch vor Gericht ziehen könnte.
Volker Honold, Hamburg
Nicht an den Wählerwillen gebunden?
Ob der Bundestag verkleinert oder vergrößert wird, ist völlig egal. Deshalb ignorieren die Politiker weiterhin das Volk, ihre Wähler. Welches Gewicht hat der Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen« in Berlin nach Artikel 15 des Grundgesetzes? Welches Ergebnis brachten die mehr als 75 Prozent Wählerstimmen gegen den Krankenhausverkauf in Hamburg? Eine christliche und demokratische Union verkaufte die Krankenhäuser trotzdem.
Artikel 20 Grundgesetz behauptet, die Bundesrepublik Deutschland sei »ein sozialer Bundesstaat« und »alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«. Das Volk darf alle vier Jahre zwei Kreuze machen – das ist die ganze Staatsgewalt des Volkes. Und damit das Volk sich nicht auf das in besagtem Artikel 20 Absatz(4) gegebene Recht beruft und Widerstand ausübt gegen jene, die versuchen, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, wird im gleichen Absatz alles aufgehoben: »…wenn andere Abhilfe nicht möglich ist«. Wer prüft und stellt wann fest, ob andere Abhilfe als Widerstand erforderlich war oder nicht? Ist Artikel 20 (4) nicht eine leere Floskel?
Ich beklagte mich einmal über meinen Vertreter im Bundestag beim Petitionsausschuss, weil er auf mein Schreiben nicht geantwortet hatte. Und wurde belehrt: Gemäß Artikel 38 (1) Grundgesetz sind die Abgeordneten »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen«. Das heißt offenbar, die Vertreter des ganzen Volkes, die viel zu vielen Mitglieder des Deutschen Bundestages, müssen ihren Wählern nicht antworten oder gar Rede und Antwort stehen. Das ist das Demokratieverständnis in Deutschland – unabhängig von der Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages.