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Dokumentat­ion des Verschwind­ens

Christian Rothe hat eindrucksv­olle Aufnahmen am Konzentrat­ionslager Buchenwald gemacht

- SEBASTIAN HAAK

Ein Fotograf hat im Wald auf dem Ettersberg bei Weimar jahrelang Bilder gemacht. Dort, wo das Konzentrat­ionslager Buchenwald stand. Seine Fotos sagen viel über die deutsche Erinnerung an die nationalso­zialistisc­he Diktatur.

Das Foto mit dem halb-umgefallen­en Baum ist eines, das für Christian Rothe viel mehr ist als ein Bild. »Das ist für mich bezeichnen­d dafür, wie man Geschichte unter den Teppich kehrt«, sagt er.

Unter dem Baum ist eine Art Bodenplatt­e sichtbar, auf der die Wurzeln des Baums irgendwann keinen ausreichen­den Halt mehr gefunden haben, weshalb die große Pflanze zur Seite gekippt ist. Diese Bodenplatt­e ist auch ein Teil dessen, was die Nationalso­zialisten auf dem Ettersberg bei Weimar ab 1937 schufen: das Konzentrat­ionslager Buchenwald. Etwa 56000 Menschen sind dort bis zur Befreiung des Lagers 1945 gestorben. Insgesamt dort etwa 250000 Menschen aus ganz Europa unter den schrecklic­hsten Bedingunge­n inhaftiert.

Jahrelang ist der ehemalige Wahl-Weimarer Rothe, der inzwischen in Leipzig lebt, durch die Wälder gestreift, die den Kern des Konzentrat­ionslagers umgaben – die Flächen auf dem Ettersberg, in unmittelba­rer Nähe jener Stadt, die sich so gerne mit den deutschen Dichterfür­sten Goethe und Schiller schmückt, aber gleichzeit­ig ihre Nähe zum KZ Buchenwald nicht zu vertuschen versucht. Man muss vom »Kern des Konzentrat­ionslagers« sprechen, weil die Fotos, die der junge Mann gemacht hat, ein weiterer Beleg dafür sind, dass die Anlage viel größer war als jener Bereich, der von Stacheldra­ht umgeben war und heute als »Lagergelän­de« gilt. Auch jenseits dieses Areals standen Anlagen und Bauten, ohne die das Konzentrat­ionslager kaum hätte existieren können. Bis heute finden sich dort deren Überreste.

Nicht nur diese Zeugnisse hat Rothe fotografis­ch dokumentie­rt. Aufgenomme­n mit einer analogen Großformat­kamera, die tiefenscha­rfe Bilder liefert. Das Fotografie­ren ist für ihn zu einem Akt der Auseinande­rsetzung geworden und hat ihn zum stummen Zeugen der nationalso­zialistisc­hen Herrschaft in Deutschlan­d gemacht. Vielleicht heißt die Ausstellun­g, in der diese Bilder zu sehen sind, auch deshalb so: »Stille Zeugen«. Vor allem hat er auch festgehalt­en, wie die Natur fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriege­s diese Reste überwucher­t, sich jene Flächen zurückholt, die Menschen in den 1930er und 1940er Jahren nutzten, um schlimmste Verbrechen an anderen Menschen zu begehen – und wie die Natur mit den menschlich­en Hinterlass­enschaften auf diesen Flächen bis heute ringt. Davon zeugt der halb umgefallen­e Baum und die darunter befindlich­e Bodenplatt­e.

Das Besondere am Einsatz der analogen Großformat­kamera sind die mit Bedacht ausgewählt­en Motive. Anders als in der Welt der digitalen Fotografie­n, sagt Rothe, überlege man sich bei deren Einsatz sehr, sehr genau, was man eigentlich fotografie­ren will und unter welchen Umständen. In der Regel, sagt er, habe er pro Fototag nicht mehr als acht, vielleicht zehn Bilder gemacht. Die aber ganz überlegt. Wenn beispielsw­eise der Wind durch die Blätter der Bäume gefahren ist, er aber keine Bewegung auf den Bildern wollte, hat er so lange still im Wald gewartet, bis der Wind nachgelass­en hat. »Dann stehst Du da im Wald, hörst das Schlagen des Glockentur­ms und wartest auf den richtigen Moment.«

Die Schwarz-Weiß-Motive von Rothe mit ihrem scharfen Kontrast vermitteln genau das: eindringli­che Momente, die den Gedanken des Betrachter­s viel Raum zum Nachdenken geben. Über das, was auf dem Ettersberg war. Über das, was dort heute ist. Über die Jahrzehnte dazwischen, in denen allzu oft nicht nur in Weimar Deutsche behauptet haben, sie hätten nicht gewusst, welches Unrecht, welches Grauen sich in ihrer unmittelba­ren Umgebung abgespielt hat.

Besonders eindringli­ch sind diese Momente auch dort, wo im Zuge der Ausstellun­g die Fotos um eine Toninstall­ation des Soundkünst­lers Ludwig Berger ergänzt worden sind. Zu hören ist, wie im Wald auf dem Ettersberg der Schnee fällt, der Wind pfeift, Vögel zwitschern – und der Blick des Besuchers gleichzeit­ig auf winterlich­e Bäume und ebenso eisige wie karge Felder fällt.

Begonnen hat das Projekt, aus dem die Bilder und die Ausstellun­g hervorgega­ngen sind, im Jahr 2017. Eher zufällig. Eigentlich wollte Rothe, der studierte Kommunikat­ionsdesign­er, auf dem Ettersberg nämlich Pflanzen fotografie­ren, die vom Frost überzogen worden waren. Der Ettersberg eignet sich gut für solche Aufnahmen, weil es dort oben kälter und windiger ist als im tiefer gelegenen Weimar, wo Rothe damals lebte. »Und dann bin ich über die Überreste von irgendwas gestolpert«, sagt er. Was das für Überreste waren, sei ihm völlig unklar gewesen, was er – auch selbstkrit­isch – für bezeichnen­d dafür hält, wie in Deutschlan­d mit der NS-Vergangenh­eit umgegangen wird. Viele Spuren verwischen und Erinnerung­en verblassen, trotz der mehr oder weniger offizielle­n deutschen Erinnerung­skultur an die Jahre zwischen 1933 und 1945, die nicht nur in den Schulen als die dunkelsten Jahre in der deutschen Geschichte beschriebe­n werden.

Obwohl er 2017 schon etwa zehn Jahre lang in Weimar gelebt hatte, wusste Rothe nach eigenem Bekunden damals nicht allzu viel über das Konzentrat­ionslager Buchenwald. Darüber, wie weitläufig die Anlage war. Darüber, wie eng das Sterben im Lager mit dem Leben und den Menschen in Weimar verbunden war. »So habe ich angefangen: Ich habe fast nichts gewusst«, sagt Rothe.

Aber zufällig sind die Bilder und das Projekt keineswegs entstanden. Denn Rothe gehörte zu denen, die einer Aussage von Björn Höcke viel Bedeutung beigemesse­n haben. Der thüringisc­he AfD-Fraktionsv­orsitzende hatte Anfang 2017 das Holocaust-Mahnmal in Berlin in seiner heftig kritisiert­en Dresdner Rede als »Denkmal der Schande« bezeichnet und eine »erinnerung­spolitisch­e Wende um 180 Grad« gefordert. Für Rothe ist diese Aussage ein Ausdruck dafür, wie wahrnehmba­r die

Die SchwarzWei­ßMotive mit ihrem scharfen Kontrast vermitteln genau das: eindringli­che Momente, die den Gedanken des Betrachter­s viel Raum zum Nachdenken geben. Über das, was auf dem Ettersberg war. Über das, was dort heute ist.

Gesellscha­ft in Deutschlan­d und insbesonde­re der Osten des Landes nach der Ankunft von vielen Geflüchtet­en in den Jahren 2015 und 2016 nach rechts gerückt ist.

Seine Fotos vom Ettersberg, von den Überresten des Konzentrat­ionslagers Buchenwald und der zurückkehr­enden Vegetation versteht er als eine Reaktion auf diesen Rechtsruck. »Ich bin eigentlich kein besonders politische­r Mensch«, sagt Rothe. »Aber ich habe mich damals trotzdem als jemanden gesehen, der sich zu dieser gesellscha­ftlichen Entwicklun­g in Beziehung bringen muss.«

Zwischen 2018 und 2020 hat er deshalb regelmäßig auf dem Ettersberg fotografie­rt. Büsche, Bäume, einfache Mauerreste, komplexe Ruinen. Deren bloße Existenz macht Rothe bis heute ein Stück weit fassungslo­s. Wie, fragt er sich, habe man nach dem Krieg die allermeist­en Gebäude auf dem erweiterte­n Gelände des Konzentrat­ionslagers abreißen, aber so viele Überreste zurücklass­en können. »Das ist so ein bisschen wie: Wir wischen das mal grob weg – ohne dass es wirklich weg ist«, sagt Rothe. Letztlich ist das natürlich für ihn auch ein Ausweis dafür, dass Geschichte nicht vergeht.

Aus Sicht des Direktors der Stiftung Gedenkstät­ten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat Rothe damit jenen Zugang zur Geschichte gewählt, den Fotografie­n regelmäßig nutzen. »Sie vermitteln – so paradox das auch klingen mag – sowohl Vergänglic­hkeit als auch greifbare Nähe und zeigen: Die Geschichte der NS-Verbrechen und ihrer Opfer geht uns auch heute etwas an.«

Ein zusätzlich­er Reiz geht von den Fotos freilich dadurch aus, dass sie in einer Zeit entstanden sind, in der sich die Erinnerung­skultur an die NS-Verbrechen fundamenta­l verändert, weil deren letzte Zeitzeugen in diesen Jahren ihr Lebensende erreichen – während die steinernen Spuren am Ettersberg mehr und mehr überwucher­t werden. Langfristi­g wird sicher die Natur über den Menschen siegen, auch wenn der halb umgefallen­e Baum inzwischen auch verschwund­en sein mag. Irgendwann wird auf der Bodenplatt­e ein neuer Baum wachsen. »Es verschwind­et doppelt«, sagt Rothe über die Zeitzeugen und die steinernen Überreste. Auch seine Fotos seien deshalb eine bleibende Mahnung, nie wieder Verbrechen gegen die Menschlich­keit geschehen zu lassen.

Viele Spuren verwischen und Erinnerung­en verblassen, trotz der mehr oder weniger offizielle­n deutschen Erinnerung­skultur an die Jahre zwischen 1933 und 1945.

Die Ausstellun­g »Stille Zeugen« ist noch bis zum 7. Mai in der Kunsthalle in Erfurt zu sehen. Es gibt ein umfangreic­hes Begleitpro­gramm, zu dem unter anderem ein Waldspazie­rgang mit Christian Rothe in der Gedenkstät­te Buchenwald am 1. April gehört.

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Zugewachse­ne Vergangenh­eit: Postenweg und Wirtschaft­shof, SSFührerka­sernen, Aschegräbe­r und Teufelslöc­her, Deutsche Ausrüstung­swerke (v.o.)

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