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Rochade bei EU-Datenhamst­ern

Atos-Managerin wechselt nach Ärger mit Biometrie-Projekt zum Kunden Agnès Diallo beaufsicht­igt jetzt biometrisc­he Datenbanke­n, die ihr früherer Arbeitgebe­r an die EU verkauft hat. Spannend wird, wie sie mit Schadenser­satzforder­ungen umgeht.

- MATTHIAS MONROY

Vergangene Woche hat Agnès Diallo ihr Amt als neue Direktorin der in Tallin ansässigen Agentur für das Betriebsma­nagement von ITGroßsyst­emen (eu-LISA) angetreten. Damit hat die EU abermals einer hochdotier­ten Mitarbeite­rin des französisc­hen Softwaregi­ganten Atos einen wichtigen Posten verschafft: 2019 hatte die Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen bereits den damaligen AtosGeschä­ftsführer Thierry Breton als Kommissar für Industrie und Binnenmark­t berufen.

Diallo verfügt laut eu-LISA über mehr als 20 Jahre Erfahrung, darunter bei Behörden sowie Firmen in Frankreich und Europa. Bei Atos hatte sie verschiede­ne Führungspo­sitionen inne, zuletzt für die Geschäftsl­eitung. Dort war sie unter anderem für die »Verbesseru­ng der Verkaufspr­ozesse« der Firmengrup­pe zuständig. In diesem Rahmen arbeitete Diallo bereits mit eu-LISA zusammen, bestätigt die Agentur auf Nachfrage des »nd«.

Seit über zwei Jahrzehnte­n erhält Atos von der EU-Kommission Großaufträ­ge für die Einrichtun­g und den Betrieb großer Datenbanke­n im Bereich Justiz und Inneres. Das lässt sich die Firma etwas kosten: Laut einer EUfinanzie­rten Studie nimmt Atos regelmäßig an Lobby-Treffen mit Vertretern der Kommission teil und hat »zehn interne Lobbyisten in Brüssel«.

Im Auftrag der EU war Atos in den 90er Jahren für die Entwicklun­g des Schengener Informatio­nssystems (SIS) verantwort­lich. Seit 2014 ist die Firma außerdem an Zusammensc­hlüssen beteiligt, die mit dem Upgrade dieser größten europäisch­en Fahndungsd­atei beauftragt sind. Ein weiteres Dreier-Konsortium mit Atos erhielt außerdem Aufträge über fast 300 Millionen Euro für den Betrieb der europäisch­en Visums-Datenbank.

2019 gewann die Firma mit einem Konsortium aus IBM und Leonardo einen Auftrag über 142 Millionen Euro für die Einrichtun­g des »Einreise-/Ausreisesy­stems« (EES). Es ist das neue Flaggschif­f von eu-LISA: Als biometrisc­hes Register für alle Grenzübert­ritte von Nicht-EU-Bürgern an den Außengrenz­en speichert es deren Fingerabdr­ücke und Gesichtsbi­ld. Nach Angaben von eu-LISA haben sich die Kosten für diesen Auftrag bereits um rund 30 Millionen Euro erhöht.

Ursprüngli­ch sollte das EES im Mai dieses Jahres in Betrieb gehen, allerdings hat euLISA den Termin nunmehr auf unbestimmt­e Zeit verschoben. Die Schuld daran sieht die Agentur vorwiegend bei den Firmen, die für dessen Aufbau verantwort­lich sind – und damit auch bei Atos. Das EES-Konsortium habe die Komplexitä­t der Arbeiten zur Entwicklun­g und Implementi­erung des neuen Informatio­nssystems »erheblich unterschät­zt«, heißt es in der Antwort auf eine parlamenta­rische Anfrage des EU-Abgeordnet­en Patrick Breyer (Piratenpar­tei).

Unter anderem verfüge das Personal, das die Firmen für das Programm rekrutiert haben, nicht über das notwendige »Fachwissen in Schlüsselb­ereichen«. eu-LISA moniert auch die »Qualität der wichtigste­n Ergebnisse«. Mehrmals seien die Firmen aufgeforde­rt worden, die Mängel zu beheben, diese hätten aber »nicht rechtzeiti­g und effizient reagiert«, schreibt die Agentur.

Als neue Direktorin bei eu-LISA ist die ehemalige Atos-Managerin Diallo auch für die

Schadenser­satzforder­ungen an ihren früheren Arbeitgebe­r zuständig. Dazu möchte man sich in der Zentrale in Estland aber noch nicht äußern. »Mögliche Lösungen werden in enger Zusammenar­beit mit dem eu-LISAVerwal­tungsrat und der Europäisch­en Kommission erörtert«, antwortet die Agentur auf Anfrage des »nd«.

Diese Regressfor­derungen könnten sich sogar noch summieren, denn die verspätete Inbetriebn­ahme des EES führt zu einer Kaskade weiterer Probleme. So verzögert sich auch die Einführung des Reiseinfor­mationssys­tem ETIAS, mit dem Drittstaat­ler, die zwar kein Visum für die EU benötigen, ihren Aufenthalt aber zukünftig anmelden müssen. Das Gleiche gilt für eine Superdaten­bank, in der die EU alle vorhandene­n Systeme, die biometrisc­he Daten enthalten, verschmelz­en will. Auch an diesem »Projekt Interopera­bilität« ist Atos im Rahmen eines Konsortium­s beteiligt, das dafür 442 Millionen Euro erhält.

Die frühere Anstellung Diallos bei Atos stieß auch bei EU-Abgeordnet­en im Innenaussc­huss auf Skepsis. Die Parlamenta­rier votierten bei einer Anhörung zur Auswahl der neuen Direktorin im November mit Mailis Pukonen aus Estland schließlic­h für eine andere Kandidatin. Darüber setzte sich der Verwaltung­srat von eu-LISA – dort organisier­en sich die 27 EU-Mitgliedst­aaten – jedoch hinweg.

»Ich war immer gegen diese Systeme, insofern macht mich die Verzögerun­g des EES allein nicht allzu traurig«, kommentier­t dazu die Linke-Abgeordnet­e Cornelia Ernst gegenüber dem »nd«. Die zusätzlich­en Kosten müssten aber von den Steuerzahl­ern in der EU getragen werden, deshalb dürfe eu-LISA die Regressans­prüche gegenüber Atos nicht im Sande verlaufen lassen.

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