nd.DerTag

Fluch der analogen Kindheit

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Künstlich generierte Bilder sehen täuschend echt aus. Die Papier-und-BleistiftG­eneration ist überforder­t – und nicht nur sie. Kolumne von Sheila Mysorekar

Mit der Wahrheit hat es die Menschheit noch nie so genau genommen. Seit die Sprache erfunden wurde, lügen die Leute das Blaue vom Himmel herunter. Aber ebenso, wie wir alle imstande sind zu lügen, sind wir auch alle darin geschult, Unwahrheit­en auf die Spur zu kommen. Leider funktionie­rt das nicht mehr.

In den vergangene­n Tagen geisterten Bilder durch das Internet, die den Papst in einem blendend weißen, dick wattierten Daunenmant­el zeigten. Auch Bilder, auf denen der ehemalige US-Präsident Donald Trump verhaftet wurde, tauchten auf. Es waren KI-generierte Bilder, also keine echten Fotos.

Fälschunge­n digitaler Bilder mittels Photoshop sind nichts Neues. Aber nun stehen Technologi­en zur Verfügung, die es jedem Laien ohne große Computerke­nntnisse erlauben, aus dem Nichts perfekte digitale Bilder zu erstellen. Im Prinzip braucht man nur dem Programm eine kurze Beschreibu­ng zu geben, wie das Bild aussehen soll, und binnen einer halben Minute wird es erschaffen.

Ein geschultes Auge sieht die Unterschie­de zwischen einem echten Foto und einem künstlich generierte­n Bild. Aber wer hat das schon? Jüngere Menschen, die bereits mit digitalen Medien aufgewachs­en sind, vielleicht etwas eher. Aber was ist mit der bedauernsw­erten Generation, die noch eine analoge Kindheit hatte? Von wem hätten wir das lernen sollen?

Kommunikat­iv gesehen habe ich einen großen Teil meines Lebens mehr mit Kaiser Wilhelm II gemeinsam gehabt als mit meinen eigenen Töchtern: Sowohl der Kaiser wie auch ich schrieben Briefe, wenn wir mit jemandem in der Ferne kommunizie­ren wollten. Ab und zu wurden wir fotografie­rt, und manchmal telefonier­ten wir, aber nicht jeden Tag. Kaiser Wilhelm und ich hatten beide eine analoge Kindheit. Im Gegensatz zu ihm habe ich jedoch den radikalen Umbruch in der Kommunikat­ion erlebt. Meine Töchter sind bereits in einer digitalen Welt aufgewachs­en. Also ganz anders als der Kaiser und ich.

Alles, was Sprache angeht, können wir von unseren Eltern lernen. Schon als Kind wird uns beigebrach­t, die Wahrheit zu sagen und Unwahrheit­en zu erkennen. Wir spüren instinktiv die Ungereimth­eiten, wenn uns jemand eine Lüge auftischt – manchmal leider zu spät. Aber im Prinzip sind wir alle darin geschult, Unwahrheit­en, die über die Sprache transporti­ert werden, zu erkennen.

Demgegenüb­er stand immer die Wahrheit der eigenen Beobachtun­g. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!« Dieser Satz war jahrtausen­delang der Trumpf. Mit der Erfindung der Fotografie übertrug sich dies auf das fotografie­rte Abbild der Welt: Ein Foto dokumentie­rte die Wahrheit.

Eigentlich stimmte diese Aussage noch nie, denn bei jedem Foto kommt es auf den gezeigten Ausschnitt an, der sehr missverstä­ndlich sein kann und verschiede­ne Interpreta­tionen der fotografie­rten Situation zulässt. Zudem wurde selbst in den Anfängen der Fotografie bereits gefälscht. Dennoch hatte sich gerade die Fotografie im Journalism­us den Ruf der Authentizi­tät bewahrt, weil sie uns das Gefühl gab, als hätten wir etwas »mit eigenen Augen« gesehen und deshalb sei es wahr. Damit ist es jetzt endgültig vorbei.

Wie sollen wir nun damit umgehen? Die ältere Generation hat kein Erfahrungs­wissen in diesem Bereich, was sie weitergebe­n könnte. Woher auch: Alles ist neu. Das heißt, es ist absolut notwendig, in den Schulen das Fach »Medienkomp­etenz« verpflicht­end einzuführe­n. Kinder müssen von klein auf lernen, mit der Informatio­nsflut umzugehen, neue Technologi­en einzuordne­n und auch im digitalen Raum Fälschung von Wahrheit zu unterschei­den.

Wir werden politische Propaganda und Desinforma­tionskampa­gnen in nie dagewesene­n Dimensione­n erleben. Nicht, weil die Menschen heutzutage mehr lügen. Sondern weil den Lügnern bessere Technologi­en zur Verfügung stehen.

 ?? BRIGITTA LEBER ?? Sheila Mysorekar ist Vorsitzend­e der Neuen Deutschen Organisati­onen, einem Netzwerk postmigran­tischer Organisati­onen.
BRIGITTA LEBER Sheila Mysorekar ist Vorsitzend­e der Neuen Deutschen Organisati­onen, einem Netzwerk postmigran­tischer Organisati­onen.

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