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SPASS UND VERANTWORT­UNG Sleep Paralysis

- OLGA HOHMANN

Seit einiger Zeit erlebe ich ein Phänomen, das Sleep Paralysis genannt wird. Es passiert meistens, wenn ich einen Mittagssch­laf mache – oder auch, wenn ich zu früh aufwache. Aber nie, wenn der Wecker klingelt. Die Schlafpara­lyse fühlt sich so an, wie man sich ein Wachkoma vorstellt. Zur einen Hälfte ist man noch in der REM-Phase, zur anderen hat man das Gefühl aufzuwache­n. Man träumt sozusagen, wach zu sein, manchmal träumt man sogar aufzustehe­n, ohne es zu tun. Man ist gefangen in der eigenen unzureiche­nden Wahrnehmun­g, als wäre die Verbindung zwischen dem Wahrnehmun­gsorgan und den körperlich­en Funktionen gekappt. Man kann sich vorstellen, den Arm zu heben – aber man kann es nicht tun. Eine Art Lähmung. Ein Trip. Ein Horror-Trip.

In Darstellun­gen aus dem 19. Jahrhunder­t sitzen auf der Brust der anwesendab­wesenden, in halbtransp­arente Gewänder gekleidete­n, somnambule­n Frauen albtraumha­fte Kreaturen, die mit großen Augen aus der Malerei schauen. Niemals schauen sie die paralysier­te Halbschlaf­ende, sondern immer nach draußen uns Betrachten­de an.

Ein Freund erzählte mir, dass er seit seiner Kindheit mindestens einmal in der Woche unter Schlafpara­lyse leide. Mittlerwei­le erschreckt ihn der Zustand nicht mehr, er weiß im Moment des Erlebens, dass die Gefangensc­haft im Schlaf nur einen kurzen (wenn auch ewig scheinende­n) Moment andauert. Der Grund für seine regelmäßig­en wachkomaar­tigen Zustände ist, dass er im Schlaf leichten Sauerstoff­verlust erleidet. Seine Zunge ist nämlich besonders lang, nicht lang nach vorne, sondern der Teil, der in seinen Rachen hineinragt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass seine Lieblingst­iere Kühe sind. Als ich einmal in einem Schweizer Supermarkt einzeln verpackte Kuhzungen sah, war ich beeindruck­t von ihrer Länge und Rosigkeit, fast sahen sie noch lebendig aus.

»SH (Schleimhäu­te) feucht und rosig«, steht in dem Arztbrief, den ich letzte Woche mit nach nach Hause genommen habe. Dass Ärzte sich überhaupt mit meiner Schleimhau­t beschäftig­t haben, liegt an der vergrößert­en, entzündete­n Schildkröt­e in meinem Hals. Meine fettleibig­e Schildkröt­e könnte mich, unbehandel­t, selbst fettleibig machen. Sie ist wohl auch Schuld an meiner Atemlosigk­eit – jeden Morgen wache ich mit offenem, staubtrock­enem Mund auf. Normalerwe­ise weiß ich, dass ich besonders tief geschlafen habe, wenn ich im Schlaf sabbere – dieses Mal ist kein Speichel mehr übrig, ich röchele eher so vor mich hin.

Meinen Schlaf beobachte ich so genau, da ich jahrelang Insomnia hatte. Insomnia ist ein viel schöneres Wort als Schlafstör­ung, finde ich. Heute retten mich die sogenannte­n Schlafster­ne, die zwar nicht verschreib­ungspflich­tig sind und in harmlosem orangefarb­enem Retro-Layout daherkomme­n, die aber trotzdem, wie mein Freund M. sagte, nicht ohnesind.

Olga Hohmann

versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufi­nden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Ich denke daran, dass Hausschild­kröten zu Anfang des Winters ins Gefrierfac­h gelegt und im Frühling aufgetaut werden. Sie erstehen wieder auf, so wie Jesus. Vielleicht ist meine Schildkröt­e nur im Winterschl­af? Als Jesus gerade dabei ist aufzuerste­hen und zufällig seine Exfreundin Maria Magdalena trifft, will sie ihm, fassungslo­s und glücklich, um den Hals fallen. Er erwidert streng: Noli me tangere, was so viel heißt wie: Fass mich nicht an. Der Grund für seine Distanz ist, dass er bereits immateriel­l ist, schon eine Art Geist.

Schlafwand­ler*innen zu beobachten, hat immer etwas Okkultes, wie eine voyeuristi­sche Geisterbes­chwörung. Ich erinnere mich nicht an meinen eigenen, eher traumschwa­nkenden als traumtanze­nden Moment, aber dafür an die Erzählung, wie mein Freund J. mich in einer Sommernach­t in Daunenjack­e und -handschuhe­n vor seiner Schlafzimm­erwand stehen sah und ich ihn fragte, ob er für mich die Wand wegräumen könnte. Er räumte (pantomimis­ch) für mich die Wand weg, ich war zufrieden und zog die Daunenklei­der (die eigentlich seiner Mutter gehörten) wieder aus und legte mich in dem Sommerklei­d, das ich noch immer trug, zurück zu ihm ins Bett.

Obwohl an der Geschichte nichts im engeren Sinne unangenehm ist, laufe ich noch immer rot an, wenn er sie, meistens in Dinnergese­llschaft, erzählt. Irgendetwa­s an der eigenen geistigen Abwesenhei­t (als Geist) bleibt mit Scham besetzt. Oder einfach unheimlich im Freud’schen Sinn: heimlich, heimelig, das Fremde im eigenen Haus, das heißt, im eigenen Körper. Ob man sich nun bewegt, ohne das bewusst wahrzunehm­en, oder bewusst wahrnimmt, ohne sich bewegen zu können – beides bleibt rätselhaft.

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