Nicht viel hinbekommen
Roland kriegt nicht viel auf die Reihe und das weiß er auch. Früher glaubte er, ein Dichter zu sein. Daraus wurde aber nichts. Und auch nicht aus dem Journalismus. Doch seine Frau Alissa wird berühmt, sogar zur berühmtesten deutschen Schriftstellerin. Allerdings hat Roland keinen Kontakt zu ihr, sie hat ihn und ihren gemeinsamen Sohn Lawrence schon lange verlassen. Damals war Lawrence vier Monate alt. Er wächst bei Roland in London auf und hat keinen Kontakt zu seiner Mutter. Roland arbeitet als Tennislehrer und Barpianist. In seiner Jugend galt er als großes Talent am Klavier. Auch daraus hat er nicht viel gemacht. Das hat vermutlich damit zu tun, dass er als Jugendlicher von seiner Klavierlehrerin sexuell missbraucht wurde – auch wenn er damals dachte, er habe das so gewollt. Genauso wie die Klavierlehrerin dachte, es sei Liebe. Beides hat nicht gestimmt. Sie wollte ihn sogar heiraten, doch dem hat er sich verweigert. Genauso wie der Schule, der Karriere und diversen anderen Erwartungen. In »Lektionen« erzählt Ian McEwan Rolands Geschichte von der Kindheit bis ins Greisenalter. Es geht darum, wie und warum Menschen sich entscheiden. Roland hat sich für ein ziemlich langweiliges Leben entschieden. Das Problem ist nur: Ian McEwan hat das auch ziemlich langweilig aufgeschrieben, von den spießigen 50ern bis zur Coronakrise. Spoiler: Auf 720 Seiten gibt es nur vier überraschende Szenen: Die Klavierlehrerin hält Roland gefangen im Schlafanzug, Roland sucht und findet Alissa in den Berliner Menschenmassen beim Konzert von Roger Waters auf dem Potsdamer Platz 1990, Lawrence klingelt als junger Erwachsener bei seiner Mutter Alissa und sie schickt ihn weg, und schließlich ringt Roland mitten in den Bergen mit einem plötzlich aufgetauchten alten Rivalen, als er die Asche der verstorbenen Frau verstreuen will – Alissa war es nicht. Die sitzt im Rollstuhl, weil sie so viel raucht. Und noch ein Spoiler: Roland hat die Klavierlehrerin nie angezeigt.
Ian McEwan: Lektionen. A.d.Engl. v. Bernhard Robben. Diogenes, 720 S., geb., 32 €.