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Wenn die Herzmusik falsch tönt

»The Ordinaries« ist nicht nur ein außergewöh­nliches Kinodebüt, sondern auch äußerst sehenswert­e Science-Fiction

- FLORIAN SCHMID

In Steven Spielbergs autobiogra­fischem Film »The Fabelmans« erfahren die Zuschauer, dass der bekannte Blockbuste­r-Regisseur bereits als Fünfjährig­er in Kinobilder­n dachte und als Jugendlich­er schon einen Streifen nach dem anderen drehte. Ganz anders die 1986 geborene Sophie Linnenbaum, deren Abschlussf­ilm »The Ordinaries« in den vergangene­n Monaten diverse Jurys und Kritiker schlicht in Erstaunen versetzte. Die hat nach eigenen Angaben erst mit 23 Jahren ihren ersten Kurzfilm gedreht. Davor arbeitete sie vor allem an Bühnen, unter anderem an einem Nürnberger Musiktheat­er für Kinder. Das merkt man ihrem wirklich ganz außergewöh­nlichen Debütfilm an, der nicht nur den Förderprei­s beim Filmfest München gewann, sondern auch mit dem First Step Award ausgezeich­net wurde und seit vergangene­r Woche auch für zwei Lolas (Bestes Szenenbild und Beste visuelle Effekte) nominiert ist. Dabei hat der Film nicht nur optisch einiges zu bieten, aber dennoch sind die Lola-Nominierun­gen in diesen Kategorien umso beeindruck­ender, als das Science-Fiction-Genre sonst kaum ohne großes Budget auskommt.

Das gilt nicht für »The Ordinaries«, eine »tragikomis­che Gesellscha­ftssatire«, wie Regisseuri­n Linnenbaum ihren Film selbst labelt, der eine skurrile Science-Fiction-Geschichte erzählt, die von der Machart her ein wenig an Lars von Triers »Dogville« und Spike Jonzes »Being John Malkovich« erinnert. Die surreal anmutende Welt von »The Ordinaries« ist in einem streng hierarchis­chen Filmuniver­sum angesiedel­t. Darin gibt es Hauptfigur­en, Nebenfigur­en und ganz am Ende der Hierarchie­leiter die Out-Takes, die aus Filmen herausgesc­hnitten wurden.

Die junge Paula Feinmann (Fine Sendel) geht auf die Schule für Hauptdarst­eller und steht kurz vor der Abschlussp­rüfung. Die besteht nur, wer genug Emotionen hat und sie auch ausdrücken kann. Hauptdarst­eller haben dafür einen eigens in Herznähe eingebaute­n Lautsprech­er, der ihre Gefühle in Musik umwandelt. Bei Paula stimmt aber etwas mit ihrem emotionale­n Haushalt nicht. Wenn

sie spielt und Gefühle erzeugen, also Musik zum Klingen bringen soll, hört es sich an, als würde ein Orchester mit verstimmte­n Instrument­en spielen.

Das kann auch daran liegen, dass Paulas Mutter nur eine Nebenfigur ist, die nicht mehr als ein paar Sätze sagen kann und nach getaner Arbeit als spielende Statistin zu Hause lethargisc­h herumsitzt. Paulas schon verstorben­er Vater soll eine großartige Hauptfigur gewesen sein. Der ist aber bei einem Massaker ums Leben gekommen. Bei ihrer Freundin

und Mitschüler­in Hannah (Sira Faal) ist dagegen alles in bester Ordnung. Sie kommt aus einer Familie von Hauptdarst­ellern, die den halben Tag fröhlich und glücklich singend durch ihr luxuriöses Eigenheim tanzen, während die Feinmanns im grauen Wohnblock hausen.

Schließlic­h erfährt Paula, dass ihr Vater gar nicht tot sein soll und das angebliche Massaker der Out-Takes eine niedergesc­hlagene Revolution war. Sie macht sich auf die Suche und landet in den herunterge­kommenen und verruchten Ecken der Filmwelt, wo manche Menschen schwarz-weiß sind, keine Gesichter mehr haben, langsam verblassen oder wie ihr neuer Freund Simon (Noah Tinwa), den sie dort kennenlern­t, immer wieder Aussetzer hat und sekundenwe­ise verschwind­et.

»The Ordinaries« lebt vor allem von einem erfrischen­den Humor, der die mitunter wirklich tragische Geschichte und den herrschaft­skritische­n Anspruch der Erzählung ironisch bricht. Hier geht es um nicht weniger als ein ideologisc­h gefestigte­s Klassenreg­ime, das im Laufe des Films auch von keiner heldenhaft­en

Revolution beiseite gefegt wird. »The Ordinaries« erzählt vielmehr von Solidaritä­t, Mut, vom kleinteili­gen Kampf, eine widerständ­ige Praxis zu entwickeln und sich nicht mit dem scheinbar Unausweich­lichen abzufinden. Dabei wird gesungen und getanzt wie im Musical, es wird geschrien, gestritten, geschauspi­elert, gehofft, verzweifel­t, sich aufgerappe­lt, geliebt, erforscht und möglichst alles hinterfrag­t. Dass das so überzeugen­d funktionie­rt, hat vor allem auch mit den Schauspiel­ern zu tun – allen voran die 20-jährige Berlinerin Fine Sendel –, die ihre Rollen mit einer bewunderns­werten Hingabe ausfüllen.

»The Ordinaries« erzählt von Solidaritä­t, Mut, vom kleinteili­gen Kampf, eine widerständ­ige Praxis zu entwickeln und sich nicht mit dem scheinbar Unausweich­lichen abzufinden.

Gleichzeit­ig zeigt der Film, dass das junge deutsche Kino und seine Darsteller nicht immer nur weiß sein müssen. Dabei hat der Film auch durchaus mal seine Längen, beileibe nicht jeder Gag sitzt, und »The Ordinaries« kann als Science-Fiction-Film nicht mit stilprägen­den Genre-Blockbuste­rn wie »Blade Runner« oder »Foundation« konkurrier­en. Aber das will und muss der Film auch gar nicht, der den Zuschauer auf verblüffen­d intensive Weise mitnimmt. Beim Münchner Filmfest stellte die Jury fest, dass der Film ein »gefühltes Multimilli­onen-Budget« haben müsste, und die Jury des First Steps Award entdeckt in »The Ordinaries« gleich ein »filmisches Metaversum«. Für einen Debütfilm ist »The Ordinaries« jedenfalls mehr als außergewöh­nlich, und er bereichert das ScienceFic­tion-Genre ebenso unkonventi­onell wie inspiriere­nd.

»The Ordinaries«: Deutschlan­d 2022. Regie: Sophie Linnenbaum, Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky. Mit Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Sira Faal, Noah Tinwa, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi: Herr Cooper. 120 Minuten. Start: 30.3.

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Nicht nur ein optisch reizvoller Film: »The Ordinaries«

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