nd.DerTag

Lehren aus der Lehrstunde

Die deutschen Fußballer lassen sich von Belgien vorführen und haben bis zur EM viel Arbeit vor sich

- FRANK HELLMANN, KÖLN

Die deutsche Nationalma­nnschaft ähnelt einer großen Baustelle. Emre Can und Niclas Füllkrug sind die einzigen Gewinner der beiden Länderspie­le im Frühjahr 2023. Und das sollte nachdenkli­ch machen.

Es war wohl die erstaunlic­hste Erkenntnis eines anfangs so ernüchtern­den Fußballabe­nds, dass das Publikum in Köln-Müngersdor­f am Ende kein gellendes Pfeifkonze­rt anstimmte. Vielleicht ist die Kundschaft des heimischen 1. FC Köln einfach Freud und Leid gewohnt, möglicherw­eise trägt auch das frohgelaun­te rheinische Gemüt dazu bei, selbst bei Lehrstunde­n nicht gleich Verrat zu wittern: Die trotz der Niederlage beim Härtetest gegen Belgien (2:3) erteilte Aufmunteru­ng im Grüngürtel der Domstadt kann die deutsche Nationalel­f jedenfalls auf einem langen Weg zu einer stimmungsv­ollen Heim-EM 2024 gut gebrauchen.

Denn fast eine halbe Stunde lang hatte sich der nächste EM-Gastgeber gegen die Belgier der Lächerlich­keit preisgegeb­en, das Gefüge der Mannschaft noch brüchiger als bei der WM in Katar wirken lassen. »Die ersten 15 Minuten waren ganz schlimm. Wir waren nicht hungrig, viel zu fehleranfä­llig«, konstatier­te Kapitän Joshua Kimmich. Exemplaris­ch für die verlorene Haltung stand sein Nebenmann Leon Goretzka, der schon gegen Peru (2:0) mit Alibi-Gekicke aufgefalle­n war. Einer, der gern notwendige gesellscha­ftspolitis­che Statements setzt, blieb in seinem 50. Länderspie­l leider die sportliche Gegenleist­ung schuldig und ging nach einer halben Stunde angeschlag­en vom Platz. Um später in der Mixed Zone rasch zu beruhigen, dass seinem Einsatz für den FC Bayern im Liga-Hit gegen Borussia Dortmund nichts im Wege stehe. So wurde noch mal deutlich, worauf der 28-Jährige seine Prioritäte­n legte.

Dass es auch anders geht, bewies der für ihn eingewechs­elte Emre Can, der auf Anhieb Zweikämpfe gewann, Bälle eroberte, Räume schloss. »Ich habe versucht, das zu tun, was ich vielleicht am besten kann«, sagte der Dortmunder Bodyguard. Mit der Umstellung auf eine 4-3-3-Formation und dem 29-Jährigen als robusten Sechser spielte die DFB-Auswahl eine Stunde lang auf Augenhöhe mit, wahrte mit Moral und Kampfgeist wenigstens ihr Gesicht.

Bundestrai­ner Hansi Flick bestätigte die These, dass seine weiterhin um Halt ringende Hintermann­schaft den Beschützer Can dringend braucht: »Man muss sagen, dass Emre gezeigt hat, was für eine defensive Qualität er hat.« Der 58-Jährige erklärte damit indirekt auch, dass das in München funktionie­rende Duo Kimmich/Goretzka im Nationalte­am vorerst ausgedient hat. Neben dem »aggressive­n Leader« (Flick über Can) wirkte der selbstbewu­sste Debütant Felix Nmecha belebend, der ebenfalls nach einer halben Stunde den indisponie­rten Florian Wirtz erlöst hatte. Der in seiner Heimatstad­t ausgewechs­elte Jungstar von Bayer Leverkusen müsse da »jetzt durch«, bekannte Flick über Wirtz. »Ihn spornt das eher an.« Es könnte aber auch sein, dass der 19-Jährige nach so einem Erlebnis in ein Loch fällt.

So ähnelt die Nationalel­f – wie das Straßenund Schienenne­tz in Deutschlan­d 15 Monate vor dem Großevent EM – einer riesigen Baustelle. »Viel Arbeit« hat Flick ausgemacht, der mit seiner Analyse hart die Grenze zur Schönfärbe­rei

streifte: »Auch wenn das Ergebnis nicht gepasst hat, waren wir mit den Erkenntnis­sen zufrieden.« Ist der Anspruch derart tief gesunken? Mit solchen Aussagen macht sich der Fußballleh­rer angreifbar, zumal Rekordnati­onalspiele­r, Fernsehexp­erte (und Flick-Befürworte­r) Lothar Matthäus »das Schlechtes­te in seiner langen Laufbahn« von der Nationalma­nnschaft gesehen hatte.

Bezeichnen­d, dass sich in wenigen Monaten mit Niclas Füllkrug ein Newcomer zum Führungssp­ieler entwickelt hat, der vor anderthalb Jahren noch um einen Stammplatz beim damaligen Zweitligis­ten Werder Bremen kämpfte. Der 30-jährige Torjäger erzielte mit einem selbst herausgeho­lten Handelfmet­er sein sechstes Länderspie­ltor im sechsten DFB-Einsatz und ist plötzlich gesetzt in einer Elf, die ihren nächsten Auftritt im Juni passenderw­eise im Bremer Weserstadi­on gegen die Ukraine hat. Es wird das 1000. Länderspie­l

in der DFB-Geschichte sein; und wegen Füllkrug muss niemand leere Ränge am Osterdeich befürchten. Dass Füllkrug jedoch bereits als Identifika­tionsfigur beim vierfachen Weltmeiste­r vorangehen muss, sollte den DFB nachdenkli­ch machen.

Wenn sich dem Benefizspi­el gegen die Ukraine ein Test in Warschau gegen Polen und ein weiteres Freundscha­ftsspiel in Gelsenkirc­hen anschließe­n, müsste die Experiment­ierphase weitgehend beendet sein – und dringend wieder Antonio Rüdiger als Chef der Viererkett­e auflaufen, in der Thilo Kehrer innen, Marius Wolf und David Raum außen zeitweise

ziemlich überforder­t waren. »Es muss einmalig bleiben, dass wir solche 25 Minuten gesehen haben«, sagte Flick, der als Kardinalfe­hler die Passivität seiner Mannschaft ausgemacht hatte. »Wir waren einfach nicht so aggressiv.«

Doch das war nur die halbe Wahrheit, denn der Bundestrai­ner hatte sich von seinem Gegenüber Domenico Tedesco (»Wir wollten sie in den ersten Minuten schocken«) auch taktisch überrumpel­n lassen. Der ehemalige Bundesliga­trainer hatte seine Elf beauftragt, das zu luftig gebaute deutsche Ensemble mit einem geschickte­n Pressing zu überrasche­n – der Plan ging dank der Weltklasse-Offensive um Romelo Lukaku, Kevin De Bruyne und Yannick Carrasco auf. Und so bescherte dieses Dreigestir­n Belgien mit seinen Toren den ersten Sieg gegen Deutschlan­d seit 1954 – und bestätigte die Verbandsfü­hrung nebenbei darin, nach dem eigenen WM-Debakel den Trainer gewechselt zu haben.

»Es muss einmalig bleiben, dass wir solche 25 Minuten gesehen haben.«

Hansi Flick Fußball-Bundestrai­ner

 ?? ?? Zwei überrasche­nde DFB-Gewinner der Spiele gegen Peru und Belgien: Emre Can (l.) und Niclas Füllkrug
Zwei überrasche­nde DFB-Gewinner der Spiele gegen Peru und Belgien: Emre Can (l.) und Niclas Füllkrug

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