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»Goldmedail­le für Feigheit und Heuchelei«

Das IOC erntet für die Empfehlung einer Rückkehr von russischen und belarussis­chen Aktiven in den Sport weltweit Kritik Für viele Beobachter hat sich das IOC auf die Seite des Aggressors geschlagen. Die Politik im Westen reagiert wütend und entsetzt. Der

- CAI-SIMON PREUTEN UND CHRISTOPH STUKENBROC­K

»Verheerend­es Signal«, »Verhöhnung der Toten« – und der Weltsport vor dem Sturz ins Chaos? Thomas Bach hatte mit Gegenwind gerechnet, doch was am Morgen nach dem »Tag der Schande« auf den Präsidente­n des Internatio­nalen Olympische­n Komitees (IOC) einprassel­te, sucht auch in der Ära des umstritten­en Sportfunkt­ionärs aus Würzburg seinesglei­chen. Politiker, Medien und Sportler aus den westlich geprägten Teilen der Welt reagierten mit Wut und Entsetzen auf die IOC-Entscheidu­ng in der Russland-Frage. Die Zeitung »USA Today« verlieh Bachs IOC die »Goldmedail­le für Feigheit und Heuchelei«.

Athletenve­rtreter Maximilian Klein hält die Wiederzula­ssung der russischen und belarussis­chen Sportlerin­nen und Sportler selbst unter den vom IOC definierte­n Bedingunge­n für falsch. »Wenn ein Aggressor, der einen Staat überfällt, Teil dieser Bewegung bleiben darf, obwohl diese sich für Frieden einsetzt, dann ist das Hohn und Spott für die Opfer dieses Krieges«, sagt Klein. »Es betrifft auch die ukrainisch­en Athleten, die im Bombenhage­l sterben, deren Sportstätt­en zerstört werden und die kämpfen müssen.« Olga Charlan, als Säbelfecht­erin ein Star in ihrer ukrainisch­en Heimat, ist am Boden zerstört. »Alle reden von den Russen. Die haben alles. Training in den besten Hallen, in ihren Riesenpalä­sten in Russland. Ein friedliche­s Leben im Familienkr­eis«, sagt die Olympiasie­gerin. »Bei ihnen geht es um die Möglichkei­t anzutreten. Bei uns geht es ums Überleben.«

Ärger in Russland

Doch auch in Russland rief die IOC-Entscheidu­ng Kritik hervor. Über »Diskrimini­erung« beschwerte sich Stanislaw Posdnjakow, Präsident des Nationalen Olympische­n Komitees Russlands, im Staatsfern­sehen und nannte Bachs Beschluss eine »Farce«.

Zur selbigen könnten viele Sportwettk­ämpfe verkommen, auch die Olympische­n Spiele in Paris. Das Beispiel Charlan und der ukrainisch­en Fechter, die den sportliche­n Vertretern des Aggressors im Weltcup und der Olympia-Qualifikat­ion gewichen sind, weist den Weg, den das IOC mit seiner Entscheidu­ng für Russland beschritte­n hat. »Es kann sein, dass die eigentlich­en Opfer boykottier­en, und dass sie zum Rückzug gezwungen werden«, sagt Klein.

Boykott. Das böse Wort. Eines, das beim IOC niemand hören mag. Bislang deutet allerdings noch wenig darauf hin, dass sich westliche Staaten einem möglichen Rückzug ukrainisch­er Sportler anschließe­n könnten. Einen deutschen Boykott schließt Thomas Weikert »aus grundsätzl­ichen Erwägungen aus«. Bis zu den Olympische­n Spielen im kommenden Jahr hofft er offenbar auf die Einsicht der Verbände. Es sei schließlic­h, so der Chef des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s, eine »Empfehlung« und »noch keine Entscheidu­ng«.

Sehr viel schärfere Töne schlägt die Politik an. Vertreter verschiede­ner Länder und Parteien verurteilt­en die Linie des Internatio­nalen Olympische­n Komitees und forderten vehement, den Ausschluss der kriegstrei­benden Nationen aus dem Weltsport aufrechtzu­erhalten. Polens Außenminis­ter Piotr Wawrzyk nannte den Mittwoch einen »Tag der Schande für das IOC«. Die »Wiederzula­ssung« sei »eine Verhöhnung der über 220 toten ukrainisch­en Trainer, Athletinne­n und Athleten. Zum Wohl, Herr Bach«, schrieb Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) bei Twitter.

Die empfohlene­n Schritte mögen auf dem Papier gut aussehen, das IOC hat klare Neutralitä­tskriterie­n definiert und sie vor allem geschärft – begrüßensw­ert. Doch die Zweifel an der Umsetzung sind massiv.

Organisier­te Verantwort­ungslosigk­eit

Der deutsche Athletenve­rtreter Klein spricht von Empfehlung­en, die von den Weltverbän­den übergangen werden könnten. »So entsteht organisier­te Verantwort­ungslosigk­eit, wie wir das auch schon im russischen Staatsdopi­ng-Skandal beobachtet haben.« Und der neutrale Status schütze Russen und Belarussen nicht davor, »dass die Individual­athleten von dritter Seite für Kriegsprop­aganda instrument­alisiert werden«.

Auch in vielen Medien – vor allem in Europa und den USA – hinterließ die Entscheidu­ng Wut, Entsetzen und Zweifel. Besonders hart ging die italienisc­he Presse mit dem IOC und seinem Chef ins Gericht. »Pontius Pilatus ist ein Dilettant im Vergleich zu Bach«, schrieb das Mailänder Blatt »Il Giornale« und fällte ein eindeutige­s Urteil: »Der westliche Boykott steht vor der Tür.« Zur Ultima Ratio wird es wohl nicht kommen. Dennoch stehen Bach, dem IOC und dem Weltsport stürmische Wochen und Monate bevor.

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