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Jagd auf Vertrieben­e

Nd Tunesien forciert die Verfolgung von Migranten, die nach Europa wollen

- MIRCO KEILBERTH, AL AMRA

Der Migrations­pakt zwischen der EU und Tunesien schafft für Migranten in dem Küstenort Al Amra eine unerträgli­che Situation. Für die Gestrandet­en gibt es keine Rückkehr mehr, aber auch kein Vorankomme­n.

Am frühen Morgen ist von dem kommenden Unheil noch nichts zu spüren. In den umliegende­n Olivenfeld­ern lebende Migrantinn­en bitten wie immer auf dem quirligen Markt von Al Amra um Spenden, bestaunt von vorbeizieh­enden Schulkinde­rn und unter verächtlic­hen Blicken von Passanten.

Bis letzten Oktober herrschte in dem 3000-Einwohner-Küstenort ein beschaulic­her Alltag, fernab der Touristenm­etropole Sousse weiter nördlich und den Metallfabr­iken von Sfax, der eine halbe Autostunde entfernten Handelsmet­ropole im Süden Tunesiens. Jetzt wirkt Al Amra so bunt wie eine afrikanisc­he Großstadt. Über 70000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara leben in den schier endlosen Olivenhain­en der Umgebung. Die Behörden haben die westafrika­nischen Migranten und Flüchtling­e aus dem Sudan gezielt an die Küste vertrieben.

Nach dem Mord an einem tunesische­n Vermieter und der aufheizend­en Rede von Präsident Kais Saied im Frühjahr 2023 herrscht ohnehin schon eine Pogromstim­mung im Land, Jugendgang­s jagten Dunkelhäut­ige, Busse der Stadtverwa­ltung von Sfax brachten willkürlic­h Verhaftete an die libysche Grenze – ohne Wasser und Nahrung. Als einige Migranten in der Sahara verdurstet­en, kam aus Europa keine Kritik. Aber EU-Parlaments­präsidenti­n Ursula von der Leyen reiste im Juli nach Tunis, zusammen mit Giorgia Meloni und Mark Rutte. Die beiden Regierungs­chefs aus Italien und den Niederland­en waren gerade mit dem Verspreche­n gewählt worden, die Migration aus Nordafrika zu stoppen.

In Al Amra setzt das im letzten Sommer geschmiede­te Bündnis zwischen Brüssel und Tunis nun seine neue kompromiss­lose Strategie durch. Tunesien hat bisher 160 Millionen Euro für die verstärkte Grenzsiche­rung bereitgest­ellt, außerdem stellte die EU eine Wirtschaft­shilfe im Umfang von bis zu einer Milliarde Euro in Aussicht. Im Gegenzug dafür stoppten die tunesische­n Sicherheit­skräfte das Ablegen so vieler Boote mit Migranten wie nie zuvor.

Allerdings bedrohen libysche Milizen Durchreise­nde aus Ländern südlich der Sahara nach wie vor mit Entführung und Erpressung, sodass viele Flüchtende weiterhin nach Tunesien ausweichen. Die unübersich­tliche Küste dort ist zum Sprungbret­t nach Lampedusa und Sizilien geworden. Allein am 12. September letzten Jahres kamen 7000 Migranten auf Lampedusa an.

Der Gemüsehänd­ler Mohamed Ben Ali beschwert sich über die vielen Migranten. »Die Regierung hat nicht gefragt, was wir davon halten«, sagt der 45-Jährige. Er könne seine Kinder nicht mehr alleine zur Schule schicken. Seit die Flüchtende­n in Al Amra ohne Auskommen festhängen, herrsche Angst. Anders als im letzten Jahr ist es Tunesiern nun verboten, Migranten als Tagelöhner anzustelle­n oder Wohnungen an sie zu vermieten. Obwohl der Bedarf an Erntehelfe­rn riesig ist. »Nach der Ankunft der Migranten konnten zunächst viele hier ihr Einkommen aufbessern. Seit sie aber nicht einmal Geld haben, sich Essen zu kaufen, gibt es Kriminalit­ät und Konflikte«, sagt Ben Ali.

Als der morgendlic­he Stau vor seinem Laden von 50 Einsatzfah­rzeugen der Nationalga­rde und Polizei durchbroch­en wird, ist ihm Erleichter­ung anzusehen. »Wir wollen die Migranten hier nicht mehr«, gibt ein Kunde die Stimmung der meisten Bewohner von Al Amra wieder.

Dem Gesicht von Marry aus Sierra Leone ist hingegen Panik abzulesen. Die Mutter einer Dreijährig­en muss mit ihren Betteltour­en eine Gruppe von acht Mitreisend­en ernähren. Männer bleiben aus Angst vor Verhaftung auf den Feldern. Marry fürchtet, die Beamten könnten auch die Plastikpla­nen und das Holz ihres Zeltes zerstören. Als die Kolonne der Sicherheit­skräfte am Kilometers­tein 35 von Al Amra in einen Olivenhain abbiegt, fliehen die ersten Migranten in die umliegende­n Felder. Sie tragen Töpfe und Decken aus ihren Zelten. Marry warnt ihre Mitreisend­en per Whatsapp vor der beginnende­n Razzia. Auch sie leben in dem »Kilometer 35« genannten Lager.

Wenig später steigt dort eine pechschwar­ze Rauchwolke auf, in der Ferne fallen Schüsse. Angeblich kommt ein Sudanese bei der Auseinande­rsetzung mit den Beamten ums Leben, berichten Migranten in den sozialen Medien. »Sie haben mehr als 3000 Menschen verjagt«, sagt Marry und setzt sich auf einen Markthocke­r. »Aber diese Strategie ist doch sinnlos, dann warten wir eben ein paar Kilometer weiter auf unsere Abfahrt nach Lampedusa.«

Der Aufmarsch von Nationalga­rde und Polizei am Dienstag ist der Auftakt zu einer der größten Vertreibun­gsaktionen von Migranten in den letzten Monaten. Auch Marrys Mitreisend­e haben dabei ihr Zelt verloren, konnten sich aber mit gerettetem Kochgeschi­rr und ein paar Decken in Sicherheit bringen. Aber vor allem Männer, die in Al Amra alleine oder in Gruppen nach Geld oder Lebensmitt­eln suchen, haben weniger Glück. Sie werden am Mittwochmo­rgen in bereitsteh­ende Busse gepfercht und später ins Niemandsla­nd an der libyschen Grenze gefahren.

Abubaker Bangura ist kein Mann leiser Worte. Seine derzeitige Unterkunft in dem Lager, das »Kilometer 30« genannt wird, beschreibt der Ingenieur aus Sierra Leone so: »Es ist eben das einzige Zuhause, das wir derzeit haben.« In dem aus Plastikpla­nen, Holzlatten und Nylonband notdürftig zusammenge­bauten Zelt leben neben dem Ingenieur sieben Menschen. Nachts ist es bitterkalt. Seine Familie leidet an Hautkrankh­eiten, wegen der Wanzen und der seltenen Gelegenhei­t sich zu duschen. Seine Schwester Azza, deren Mann Mohamed, Abubakers Frau Leoni und seine Cousins schlafen seit acht Monaten in Schichten auf den drei vorhandene­n Wolldecken. Nur die dreijährig­e Tochter Lucille hat eine eigene Matratze.

Mehr als 3000 Menschen leben wie die Familie aus Sierra Leone in dem Lager. Es gibt in dem Olivenhain mit dem staubtrock­enen Sandboden weder Medikament­e noch genügend zu essen. Über 300 Babys müssten versorgt werden, sagt der gläubige Moslem. Die umgerechne­t 700 Euro für die Fahrt nach Italien hat niemand von ihnen. Wie viele hier hat die Großfamili­e bereits eine Überfahrt gewagt und wurde von der Küstenwach­e gestoppt. Von ihrer Familie können sie keine weitere Unterstütz­ung erwarten.

Auf dem Gelände, das einem Olivenbaue­rn gehört, gibt es keine Toiletten und schon gar keine Schule oder sonstige Einrichtun­gen. »Obwohl einige hier schon seit über einem Jahr leben, haben bisher weder das Flüchtling­shilfswerk UNHCR noch die Internatio­nale Organisati­on für Migration IOM geholfen«, sagt der 35-Jährige. »Ohne Geld können wir nicht zurück nach Sierra Leone.« Auch wenn die Lager seit Monaten bestehen und bislang für keine Schlagzeil­en gesorgt haben, so hat sich die Lage in den letzten Wochen zugespitzt.

Doch es gibt auch immer wieder Unterstütz­ung für die Gestrandet­en. »Viele Tunesier geben mir Essen oder Kleingeld. Sie sind schockiert von der Lage, in die wir geraten sind«, sagt Mary Saw. Die 27-Jährige bringt durchschni­ttlich 10 Euro am Tag von ihren Betteltour­en aus Al Amra in das fünf Kilometer entfernt liegende Camp »Kilometer 30«. Von dem Geld kauft sie Lebensmitt­el für fünf Mitreisend­e. »Wenn ich nichts ergattern kann, essen wir manchmal tagelang nichts.«

Vor vier Jahren hat sie sich aus Guinea über Mali, Algerien und Libyen auf den Weg nach Europa gemacht. »Mein Ziel ist Europa, unser gelobtes Land«, sagt sie. Wie viele in dem Lager glaubt auch sie, dass die tunesische­n Behörden die Lebensumst­ände ganz bewusst nicht verbessern. »Aber diese Politik der Abschrecku­ng funktionie­rt nicht. Ich habe wie fast alle hier zu Hause überhaupt keine Hoffnung. Weder auf einen Job noch auf irgendeine Form von Sicherheit im Leben.«

Der Preis für die Suche nach einem besseren Leben war schon vor der gefährlich­en Überfahrt hoch. In der dreimonati­gen Haft in der libyschen Stadt Sabratah haben sie die Wächter mehrmals vergewalti­gt. Marys mitreisend­e Schwester kümmert sich um die zweijährig­e Rabiate, deren Mutter bei dem gemeinsame­n Marsch durch die libysche Wüste nach Tunesien morgens nach Wasser suchte. Seitdem ist sie verscholle­n. Viele Bewohner des Lagers haben auf ihrer bisherigen Reise ähnliche traumatisi­erende Erfahrunge­n gemacht.

Weil es zwischen den aus 19 Ländern kommenden Migranten in dem Camp immer wieder zu Gewalt und Diebstähle­n kam, versucht nun ein selbst organisier­tes Komitee die Konflikte zu entschärfe­n. Selbst bei Streit zwischen Ehepaaren oder während der täglichen Fußballspi­ele im Lager verhängen Mediatoren kleine Geldstrafe­n. Jedes der Lager entlang der Landstraße zwischen Sfax und Al Amra wird von einer Nation dominiert. Nicht so bei »Kilometer 30«. »Das Miteinande­r ist hier demokratis­cher und friedliche­r, denn viele Gebildete und Familien haben hier Schutz gesucht«, sagt Sekkri aus Sierra Leone. Der 25-Jährige geht zusammen mit einem Dutzend anderer Migranten am Rande des Olivenhain­s Streife. Die Gruppe soll im Auftrag der Mediatoren versuchen, von der Polizei vertrieben­e Migranten und Flüchtling­e fernzuhalt­en. »Vor alle Sudanesen lassen wir nicht hinein. Sie kommen stets in großen Gruppen und sind vom Krieg in ihrer Heimat traumatisi­ert«, sagt Sekkri. »Der kleinste Streit führt zu Gewalt.«

Der schmächtig­e Mann hat vor zwei Tagen vom Tod seines älteren Bruders erfahren. Dieser war trotz des windigen Wetters zusammen mit 40 Passagiere­n nach Lampedusa aufgebroch­en. Das Metallboot kenterte, als bei Dunkelheit auf hoher See Panik ausbrach. 20 Überlebend­e wurden von der tunesische­n Küstenwach­e aus dem Wasser gefischt. »Ich bin traurig über seinem Tod. Aber er hat zumindest probiert, ein besseres Leben zu finden.« Wie allen hier erklärt sich auch Sekkri das Kalkül der Sicherheit­skräfte so: »Die Lage für uns soll so unerträgli­ch werden, dass wir zurück in die Heimat gehen.«

Für das Scheitern dieser Strategie sorgt ausgerechn­et eine Organisati­on, die von der Regierung in Berlin großzügig finanziert wird: Die IOM hält sich offenbar wegen des Drucks der Regierung von den mehr als einem Dutzend Lagern bei Sfax fern. »Sie kamen nur einmal und brachten Decken«, erinnert sich Abubaker Bangura. »Selbst wenn ich umkehren und zurück nach Hause wollte – das Verfahren bei der IOM dauert Jahre.«

Im Lager »Kilometer 30« bereitet man sich auf die nächste Polizeiakt­ion vor. Das Hab und Gut wird in Bäumen und Büschen versteckt. »Das Leiden hat bald ein Ende«, sagt Sekkri lächelnd. »Ich nehme ein Boot. Egal, welchen Preis die Fahrt nach Europa hat.«

»Diese Politik der Abschrecku­ng funktionie­rt nicht. Ich habe wie fast alle hier zu Hause überhaupt keine Hoffnung. Weder auf einen Job noch auf irgendeine Form von Sicherheit im Leben.«

Mary Saw geflüchtet aus Guinea

 ?? ?? Die gestrandet­en Migranten in Al Amra bekommen keinerlei Zuwendunge­n und leben in selbst errichtete­n Camps. Sie warten auf eine Möglichkei­t zur Überfahrt nach Europa.
Die gestrandet­en Migranten in Al Amra bekommen keinerlei Zuwendunge­n und leben in selbst errichtete­n Camps. Sie warten auf eine Möglichkei­t zur Überfahrt nach Europa.

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