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Bevölkerun­gsmedizin unter ferner liefen

Der öffentlich­e Gesundheit­sdienst muss weiter um Anerkennun­g und Unterstütz­ung werben In der Pandemie wurde deutlich, wie wichtig funktionie­rende Gesundheit­sämter sind. Eine Finanzspri­tze soll die Arbeit attraktive­r machen, neue Stellen wurden geschaffen.

- ULRIKE HENNING

Der öffentlich­e Gesundheit­sdienst (ÖGD) rückte in der Corona-Pandemie für einige Zeit in den Fokus auch kritischer Debatten. In diesen Jahren deutete sich schon an, dass der ÖGD – repräsenti­ert durch die Gesundheit­sämter – schon rein technisch gesehen auf einen solchen Seuchenfal­l in der Regel nicht gut vorbereite­t war. Über die Gegenwart und Zukunft dieser dritten Säule des Gesundheit­swesens (neben der ambulanten und der stationäre­n Versorgung) wurde am Mittwoch auf einer Veranstalt­ung der Bundesärzt­ekammer diskutiert.

Zunehmende soziale Ungleichhe­it, Klimawande­l und neue Pandemien – damit umschrieb Ärztekamme­r-Präsident Klaus

Reinhardt den Rahmen, in dem der ÖGD gebraucht wird. Die Gesundheit­sämter leisten in diesen Feldern einiges, und zwar schon länger. Nur sind die 385 Ämter bundesweit sehr unterschie­dlich aufgestell­t. Einige müssen mit zehn Mitarbeite­rn auskommen, andere in größeren Städten sind teils an Universitä­ten angebunden und haben bis zu 350 Beschäftig­te.

Unter dem Stichwort Bevölkerun­gsmedizin – im Gegensatz zur Individual­medizin in Praxen und Krankenhäu­sern – sind dem Gesundheit­sdienst Aufgaben wie die Schuleinga­ngs- und -ausgangsun­tersuchung­en zugeordnet. Weniger bekannt ist die Verantwort­ung im gesamten menschlich­en Lebenslauf: Der ÖGD unterstütz­t Schwangere ohne Zugang zum Gesundheit­ssystem dabei, diesen zu erhalten. Am anderen Ende ist er verantwort­lich für die zweite Leichensch­au vor der Einäscheru­ng. Laut Kristina Böhm, der Vorsitzend­en des Bundesverb­andes Ärztinnen und Ärzte des

ÖGD, sind 90 Prozent der Aufgaben des Dienstes in Gesetzen geregelt. Vieles davon hält sie für unverzicht­bar: Der ÖGD ist etwa berechtigt, in Gemeinscha­ftseinrich­tungen zu impfen. Und er kann auch sogenannte sozialkomp­ensatorisc­he Sprechstun­den einrichten, wie etwa in Dresden für die kinderzahn­ärztliche Versorgung – wenn bestimmte Fachgebiet­e sonst nicht abgedeckt sind. Wenig bekannt ist auch die Versorgung von Kontaktper­sonen von Menschen, die an bestimmten Infektione­n leiden, etwa Tuberkulos­e oder Scabies (Krätze).

Zwar gibt es den ÖGD in Deutschlan­d bereits seit 150 Jahren, aber seine Geschichte ist äußerst wechselhaf­t. Zwischen 1933 und 1945 war sie unter anderem von rassehygie­nischen Aufgaben bestimmt. In der Bundesrepu­blik wurde diese Phase lange »kleingered­et«, wie es der Mediziner Matthias Gruhl in seinem Vortrag beschrieb. Der Arzt für öffentlich­es Gesundheit­swesen

und frühere Staatsrat weist aber auch auf die Chancen hin, die der ÖGD in den vergangene­n Jahrzehnte­n hatte: unter anderem die HIV-/Aids-Welle, bei deren Entstehen es personelle Aufstockun­gen gab, oder das neue Konzept der Lebenswelt­en, mit dem Menschen in der Obdachlosi­gkeit, in Jugendszen­en, Großstädte­n oder Pflegeheim­en gesundheit­lich gefördert werden sollen.

Nicht zuletzt nennt Gruhl neue Infektione­n, begonnen mit Sars, Ehec, der Schweinegr­ippe bis hin zu Covid-19, bei denen die Gesundheit­sämter immer mehr gefordert waren. Nach den ersten Pandemiemo­naten erkannte die Politik dann endgültig, dass der ÖGD gestärkt werden musste. Im September 2020 wurde der Pakt für den ÖGD beschlosse­n. Für die Jahre 2021 bis 2026 stehen Mittel von insgesamt vier Milliarden Euro zur Verfügung, 5000 neue Stellen können geschaffen werden, über 4000 wurden bereits besetzt.

Die Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheit­sämtern hoffen darauf, dass der Pakt, wie im Koalitions­vertrag der Bundesregi­erung festgehalt­en, noch fortgesetz­t wird. Bis jetzt scheint das nicht sicher, wie Ute Teichert vom Bundesgesu­ndheitsmin­isterium mit Blick auf den Bundeshaus­halt in einem »Kriegsumfe­ld« zu bedenken gibt. Die Gruppe der ÖGD-Mediziner, wie auch andere Fachgruppe­n durch die Überalteru­ng ihrer Mitglieder gefährdet, scheint im Schnitt langsam wieder jünger werden, sagen Besucher von Fachkongre­ssen. Mut macht die neue Möglichkei­t, dass Studierend­e ihr praktische­s Jahr zu Teilen auch in einem Gesundheit­samt absolviere­n können. Nur auf einen eigenen Tarifvertr­ag warten die Ärztinnen und Ärzte noch immer. Würde ihr Aufgabenbe­reich attraktive­r, was nicht nur von den Gehältern abhängt, könnte vermutlich das übrige Gesundheit­ssystem deutlicher entlastet werden, so das Fazit der Veranstalt­ung.

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