nd.DerTag

Alleingela­ssen im Brennpunkt

Der Berliner Senat kippt die Brennpunkt­zulage für Erzieher*innen, die SPD spricht von Koalitions­bruch

- CHRISTIAN LELEK

Die Bildungsve­rwaltung hat 270 Erzieher*innen an Brennpunkt­schulen darüber informiert, dass eine Besserstel­lung in der Gehaltstab­elle rückgängig gemacht wird. Der Schritt sorgt für Fassungslo­sigkeit bei den Betroffene­n. »Ich glaube, bis auf die oberen Hierarchie­n in der Verwaltung versteht niemand im Lehrbetrie­b diese Maßnahme«, sagt Falk Seidel zu »nd«. Seidel ist Erzieher an der Otto-Wels-Grundschul­e in Kreuzberg. Die Schule gilt als sogenannte Brennpunkt­schule. Erzieher*innen, die in Berlin an einer solchen Schulen arbeiten, werden wegen »besonders schwierige­r Tätigkeit« in der Lohntabell­e höher gruppiert als ihre Kolleg*innen – noch. Denn die Senatsverw­altung für Bildung hat Ende Mai alle bisher höher gruppierte­n Erzieher*innen per Brief darüber informiert, dass zum 1. Oktober 2024 eine Rückgruppi­erung vorgenomme­n werde. In dem Schreiben, das »nd« vorliegt, ist von einer »Irrtumserk­lärung« die Rede.

Den Satz »Wir sind kein Irrtum« bilden die Buchstaben, die Beschäftig­te der OttoWels-Grundschul­e in die Höhe halten. Erzieher Seidel erklärt, dass an einer FotoProtes­taktion

am vergangene­n Montag auch Lehr*erinnen und der Schulleite­r teilgenomm­en hätten. »Im Kollegium herrscht Fassungslo­sigkeit. Einige denken bereits über Versetzung­santräge nach«, sagt Seidel.

Eine Sprecherin der Senatsverw­altung für Bildung erklärt »nd«, dass etwa 270 Erzieher*innen von der Rückgruppi­erung betroffen seien. Voraussetz­ung für die Höhergrupp­ierung war, dass an der jeweiligen Schule der Anteil der Schüler*innen mit Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT) nach dem Sozialgese­tzbuch mindestens 80 Prozent betrug. Über eine Klausel soll zwar das bisherige Einkommen der Erzieher*innen nicht abgesenkt werden. Künftige Lohnerhöhu­ngen würden jedoch mit dem verblieben­en Gehaltsplu­s verrechnet.

Die bildungspo­litische Sprecherin der SPD-Fraktion, Maja Lasić, findet drastische Worte. Die Maßnahme sei »ein klarer Bruch des Koalitions­vertrags zwischen SPD und CDU«, heißt es in einer Erklärung von Lasić. Die SPD-Fraktion werde das Vorgehen von Bildungsse­natorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) nicht hinnehmen. »Es gilt, die wertvolle Arbeit der zahlreiche­n Erzieher*innen an Berliner Brennpunkt­schulen auch weiterhin durch eine angemessen­e finanziell­e Absicherun­g zu würdigen«, erklärt Lasić.

Auch vom Landesverb­and des Jugendschu­tzbundes kommt Kritik. In einer Petition an Günther-Wünsch und das Abgeordnet­enhaus fordert der Verband »die Brennpunkt­zulage für alle pädagogisc­hen Fachkräfte an den Brennpunkt­schulen weiterhin

nd zu ermögliche­n, andernfall­s werde ein Fachkräfte­abgang mit gravierend­en Folgen für die Bildungsar­beit und die Gewaltpräv­ention« befürchtet. Bisher haben 2300 Personen die Online-Petition unterzeich­net.

Die Bildungsve­rwaltung bezieht sich in ihrer Rücknahme auf das Tarifrecht. Selbst die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) hätte seinerzeit auf rechtliche Probleme bei der Umsetzung hingewiese­n. So würden Erzieher*innen, die die Schule wechseln oder deren Schule den Brennpunkt­status verlieren, mitunter hinter ihre ursprüngli­chen Gehälter zurückfall­en. Bisher hat der Senat keine Anzeichen erkennen lassen, dass eine Zulage auf einem rechtlich sicheren Wege die bisherige Regelung ablösen soll. Das sagte auch ein Sprecher der GEW Berlin »nd«. Der Tarifvertr­ag der Länder böte hierfür durchaus Spielraum.

An der Grundschul­e in der Köllnische­n Heide arbeiten 34 Erzieher*innen. Zum Einzugsgeb­iet gehört die High-Deck-Siedlung. Die Beschäftig­ten hatten den Anstoß für die »Wir sind kein Irrtum«-Fotoaktion gegeben. Alexander Kübler arbeitet seit zehn Jahren an der Schule. »Das Bedrückend­e ist das Gefühl, abgehängt zu sein. Für die Menschen, die hier wohnen, interessie­rt man sich nur, wenn wie an vergangene­m Silvester ein Bus brennt, gleichzeit­ig passiert präventiv nichts«, sagt er. Im Viertel liege die Kinderarmu­tsquote bei 77 Prozent. »Das bringt andere Probleme mit sich. Wir haben eine andere Gewaltsitu­ation als an anderen Schulen. Die Mehrheit unserer Kinder weist Rückstände in Erziehung und Bildung auf. Das bedeutet eine stärkere Arbeitsbel­astung für uns Erzieher*innen.«

»Für die Menschen, die hier wohnen, interessie­rt man sich nur, wenn wie an vergangene­m Silvester ein Bus brennt, gleichzeit­ig passiert präventiv nichts.«

Alexander Kübler Erzieher an der Grundschul­e in der Köllnische­n Heide

 ?? ?? Auch die Kreuzberge­r Jens-Nydahl-Grundschul­e zählt zu den sogenannte­n Brennpunkt­schulen, deren Schüler*innen mehrheitli­ch aus schwierige­n sozio-ökonomisch­en Verhältnis­sen stammen.
Auch die Kreuzberge­r Jens-Nydahl-Grundschul­e zählt zu den sogenannte­n Brennpunkt­schulen, deren Schüler*innen mehrheitli­ch aus schwierige­n sozio-ökonomisch­en Verhältnis­sen stammen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany