nd.DerTag

Die Monster in uns allen

Ron Leshem über die einschneid­ende Zäsur vom 7. Oktober für Israelis und Palästinen­ser

- STEFAN BERKHOLZ Ron Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober. A. d. Hebr. v. Ulrike Harnisch u. Markus Lemke. Rowohlt, 320 S., geb., 25 €.

Ein weiteres Buch über den 7. Oktober vergangene­s Jahr, das Massaker an jüdischen Zivilisten in Israel, ist erschienen, eine Reihe anderer Publikatio­nen wird folgen. Der Autor, Ron Leshem, 1976 geboren, ist ein liberaler, »im Nahen Osten geborener schwuler Mann«, wie er sich selbst bezeichnet. Der Roman- und Drehbuchau­tor war zudem einst ein israelisch­er Geheimdien­stoffizier. Seit zehn Jahren lebt er in Boston, weil er dem Frieden in Israel nicht traut.

Der 7. Oktober hat seinen Pessimismu­s (oder seinen Realismus) auf schrecklic­he Weise bestätigt. Leshem ist persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante in einem Kibbuz, verschlepp­te als Geisel seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürg­er war, und brachte auch ihn um. Kibbuze galten einst als Symbol für Solidaritä­t, Frieden und Völkervers­tändigung.

Grausamste Details schildert der Autor gleich zu Beginn seines Buches, später ausführlic­her noch in einem Kapitel, überschrie­ben als »Chronik eines Tages«. Folterbild­er. Apokalypti­sche Abschlacht­ungen. Opferritua­le. Der Mensch enthemmt und wild in Wolfsgesta­lt. Kaum zu ertragen sind diese Notizen, bestürzend und zutiefst verstörend. Massaker unter dem Fluch einer Religion.

Mehr als 1000 Tote, entsetzlic­h zugerichte­t, 240 verschlepp­te Geiseln. Der Überfall geschah planmäßig am Schabbat. »Ziel des Terrors ist immer«, schreibt Leshem, »unseren Glauben an die menschlich­e Natur zu vernichten.« Das langfristi­ge Ziel der Hamas: ein Mehrfronte­nkrieg mit dem Libanon, dem Iran, der Arabischen Liga und den Palästinen­sern innerhalb Israels. »Ein solcher Angriff war dafür gedacht«, schreibt Leshem, »die Monster in uns allen zu wecken und ein ganzes Volk dazu zu bringen, Tod und Rache zu wollen.«

Am aufschluss­reichsten in Leshems Buch ist ein Kapitel, das bezeichnen­derweise unter der Überschrif­t »Bürgerkrie­g« steht. Mit rund neunzig Seiten ist es das längste, es nimmt knapp ein Drittel des Buches ein. Darin charakteri­siert Leshem die verschiede­nen Bevölkerun­gsgruppen in Israel.

Da sind die Messianist­en, die Nationalre­ligiösen, die heutige rechtsextr­eme Siedlerbew­egung, die mit Waffengewa­lt ihren Einflussbe­reich verteidigt und erweitert. Die Demokratie habe Gottes Gebot zu unterstehe­n, verlangen sie. In linken Kreisen »betrachtet­e man die Religiösen als eine fundamenta­listische Gruppe«, schreibt Leshem, »die Israel zu zerstören drohte, indem sie das Land in einen religiösen, sich vom Westen abkoppelnd­en Apartheids­taat verwandelt­e«.

Dann gibt es die Charedim, die Gottesfürc­htigen, jenen Bevölkerun­gsteil mit dem größten demografis­chen Zuwachs, heute knapp 13 Prozent der Bevölkerun­g, in 25 Jahren rechnet man mit 21 Prozent. Sie sehen, »nach eigenem Verständni­s«,

ihre Aufgabe darin, »die öffentlich­en Kassen im Interesse der eigenen Wählerscha­ft zu plündern«. Ein großer Teil dieser ultraortho­doxen Juden »geht nicht arbeiten, lebt von staatliche­r Beihilfe«, schreibt Leshem. Sie bewegen sich in »jüdischen Überlegenh­eitsgefühl­en«, und sie würden ebenso versuchen, »Apartheidl­ösungen umzusetzen«.

Auch Regierungs­chef Benjamin Netanjahu, als mehrfach Angeklagte­r, kommt in Leshems Kritik nicht zu kurz. Der Autor äußert zudem den »Verdacht, dass Netanjahus »Bibisten« den Krieg lieber in die Länge ziehen wollen, denn solange er andauert, befasst man sich nicht mit ihrem Versagen und mit den gegen Netanjahu geführten Strafverfa­hren. Der Krieg schreitet ohne jegliches Ziel oder jeglichen Plan voran. Was aber soll am Tag danach geschehen?«

Leshem versucht in seinem Buch, beiden Seiten gerecht zu werden, den Israelis wie den Palästinen­sern. Es gelingt ihm tatsächlic­h eine ausgewogen­e Darstellun­g der verzwickte­n und hasserfüll­ten Lage. Der Autor blickt zurück auf die Gründung Israels 1948, skizziert »die Geschichte des Konflikts«, ergründet, woher die »Bezeichnun­g Palästina« stammt, nämlich von »Philistern, offenbar

ein Volk von Seefahrern aus der griechisch­en Region, das 604 v. Chr. ausgelösch­t wurde«. Sodann kommt Leshem auf »das Jahr null im Kreislauf der Gewalt zu sprechen, den Ursprung, an dem alles seinen Anfang nahm«. Dieses verortet er bereits in den 20er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts.

Der Autor stellt die verschiede­nen Geschichts­bilder von beiden Seiten gegeneinan­der, lässt den Leser daran teilhaben, wie Wut und Hass jeweils erzeugt und begründet werden. Er benennt den »Beginn der palästinen­sischen Katastroph­e«, die von vielen Israelis nicht anerkannt würde, weil jene meinen, dies »gefährde unser Existenzre­cht«. Der dem Gründungsa­kt Israels folgende Krieg endete im Waffenstil­lstandsabk­ommen von Rhodos 1949, eine Vereinbaru­ng mit den Nachbarn Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon. Die darin festgeschr­iebenen Grenzen seien weltweit »von der Mehrheit der Staaten« anerkannt worden, »selbst von den meisten arabischen Staaten«. Leshem merkt aber auch, dass »den Israelis im gleichen Zuge die Verantwort­ung aufgetrage­n« worden sei, den Verlust und den Schmerz anzuerkenn­en, den die Palästinen­ser mit ihrer Entwurzelu­ng erlitten, was »Israel erst ermöglicht hatte, sich 1948 als demokratis­cher Staat und jüdische Heimat zu gründen«.

Heute ist vor allem der Iran an Explosione­n in der Region interessie­rt, die Hamas sind Erfüllungs­gehilfen. Netanjahus rechtsradi­kale Regierung befeuert die Auseinande­rsetzungen.

Wie sollen aus dieser blutrünsti­gen Lage Auswege gefunden werden?

Die Situation sei zum Verzweifel­n, bekennt Leshem. Sein Buch handelt nicht nur vom Krieg, »sondern ebenso von der zerrissene­n, kranken Verfassung, in der Israel sich am Vorabend des 7. Oktober befand, und der Art und Weise, in der das Massaker das Land von Grund auf verändert hat und weiter verändern wird«. Und nicht nur diesen Staat. In den USA, in seiner Wahlheimat, registrier­t er besorgnise­rregenden Judenhass, vor allem unter jungen Menschen. Desinforma­tionskampa­gnen über das Internet florieren auf abgründige­m Niveau.

Das Schreiben sei ihm Trost, lässt Leshem wissen. Seine Wünsche und Visionen im letzten Kapitel unter der Überschrif­t »Ein Entwurf für Hoffnung, für Frieden« klingen unwirklich und verzweifel­t in ihrer Ohnmacht eines Intellektu­ellen. Leshem selbst bemerkt zu Beginn des Buches: »Wir sind einander so ähnlich, das israelisch­e Schicksal und das palästinen­sische sind derart ineinander verschlung­en, dass man schon von ein und derselben, freilich zutiefst gespaltene­n Persönlich­keit sprechen kann.« Deshalb zu guter Letzt sein verzweifel­ter Versuch, Lösungen anzubieten.

Eine Menschheit­stragödie biblischen Ausmaßes ist zu beklagen.

Eine Menschheit­stragödie biblischen Ausmaßes ist zu beklagen.

 ?? ?? Wer soll das wieder aufbauen? Und wer die Wunden heilen?
Wer soll das wieder aufbauen? Und wer die Wunden heilen?

Newspapers in German

Newspapers from Germany