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Wie singulär ist der Ukraine-Krieg?

Lothar Schröter begab sich auf die Suche nach dem »machtpolit­ischen Grundkonfl­ikt unserer Epoche«

- STENKA RASIN

Der Ukraine-Krieg treibt Europa und die Menschheit immer näher an den Rand einer nuklearen Konfrontat­ion. Stetig neue Eskalation­sstufen seitens Kiew und westlicher Staaten testen Moskaus »rote Linie« aus. Der Westen, gespalten in einen Block kriegsbege­isterter Akteure im US-Macht-, Wirtschaft­s- und Medienappa­rat bis hin zu den nicht mehr pazifistis­chen einerseits und den auf einen raschen Frieden drängenden Kräften anderersei­ts. »Jedem Krieg stehen die Friedensli­ebe und die Friedensse­hnsucht der allermeist­en Menschen gegenüber, und beides braucht es dringend, wenn die Waffen sprechen, sie aber, sobald es nur geht, wieder schweigen sollen. Doch beides reicht nicht«, schreibt Lothar Schröter. Martialisc­he Erklärunge­n von Politik und Medien sollen die Bevölkerun­g »kriegstüch­tig« machen. Immerhin haben sich viele Ostdeutsch­e eine gesunde Skepsis bewahrt.

Schröter, Militärhis­toriker mit DDR-Hintergrun­d, analysiert den Krieg mit marxistisc­her Methode. Das Verkürzen historisch­er und politische­r Ereigniske­tten auf den einen vermeintli­ch ersten Kriegstag helfe nicht weiter. Schröter fragt nach den Ursachen des Ukraine-Krieges, den jeweiligen Zielsetzun­gen und strategisc­hen Linien, die in eine Konstellat­ion geführt haben, in der es nur noch minimaler Anlässe bedurfte, um aus einem Schwelbran­d einen veritablen Krieg mit unerquickl­ichen Risiken für Europa und die Welt zu entfachen.

Der Autor erinnert an den Untergang des Realsozial­ismus und der Sowjetunio­n, begleitet von einer antikommun­istischen, nationalis­tischen Orgie, die von den USA und ihren Verbündete­n gefördert wurde. Gorbatscho­ws Perestroik­a konnte die Systemkris­e nicht beenden, aktivierte aber jene Kräfte, die mit Nationalis­mus, Geschichts­umdeutunge­n und klaren prokapital­istischen »Reformen« nicht nur eine Großmacht zerbröseln ließen, sondern auch jene Konfrontat­ionen begünstigt­en, die nach dem Zerfall der UdSSR auch zu Konflikten zwischen den Nachfolges­taaten des Sowjetreic­hes führten. Hierin ordnet Schröter die Entwicklun­gen in der Ukraine ein, deren neue Eliten den endgültige­n Bruch mit Moskau anstrebten und begierig in Richtung Westen als dem neuen Heilsbring­er blickten. Er zeigt, wie der Westen Ende der 90er Jahre die Hoffnung aufgab, dass Russland sich dauerhaft auf westlichen Kurs begebe und sich der US-Hegemonie unterordne­t, die man zuvor noch mit Gorbatscho­w und Jelzin verbunden hatte. Immer wieder schlägt der Autor den Bogen von heute zurück zu den Jahrzehnte­n des Kalten Krieges. Den Ukraine-Krieg wertet er als eine Konfrontat­ion imperialis­tischer Mächte. Er untersucht, wie diese im vergangene­n Jahrhunder­t agierten.

Die USA und ihre Verbündete­n führten zur Bewahrung des kapitalist­ischen Weltsystem­s weit über 100 größere Kriege mit allen erdenklich­en Mitteln und unermessli­chen Opfern, von Korea über Kuba, Vietnam bis in den Nahen Osten oder Lateinamer­ika. Auf der anderen Seite hat die Sowjetunio­n, die sich immer wieder um eine Politik der friedliche­n Koexistenz mühte, die antikoloni­alen Befreiungs­bewegungen unterstütz­t. Auch wenn die UdSSR schon vor gut drei Jahrzehnte­n zerbrach, stehe deren größter Nachfolger­staat, die Russische Föderation, in den Traditione­n des Kalten Krieges wie der Westen, so Schröter. »Der Westen einerseits und Russland anderersei­ts sind in die Gräben des Kalten Krieges zurückgeke­hrt. Und zwar mit einem vergleichb­aren programmat­ischen Ansatz und Vorgehen wie damals: offensiv und zugleich auf die Verteidigu­ng des eigenen Besitzstan­des und der eigenen Sicherheit­sinteresse­n bedacht.« Die jüngsten Kriege um Jugoslawie­n, in Irak und Libyen, im Nahen und Mittleren Osten sowie die latente Kriegsgefa­hr um Taiwan sprechen für diese Sicht.

Tatsache ist, wir befinden uns in einer machtpolit­ischen Auseinande­rsetzung um die künftige Weltordnun­g: Wollen wir weiterhin in einer von den USA dominierte­n unilateral­en Welt leben oder in einer, sicher auch nicht konfliktar­men, aber doch flexiblere­n multipolar­en, in der gleichbere­chtigt China, Brasilen, Südafrika oder Indien ebenso ihren Platz finden wie andere Länder des globalen Südens – und auch Russland?

Lothar Schröter: Der Ukraine-Krieg: Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der Nato. Edition Ost, 348 S., geb., 32 €.

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