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»Fußball heilt nicht alles«

EM-Geschäftsf­ührer Stenger und Schär erwarten kein Sommermärc­hen 2.0

- INTERVIEW: FRANK HELLMANN

Die Heim-WM 2006 ist bei den meisten Deutschen noch immer als Sommermärc­hen abgespeich­ert. Wird die Fußball-EM 2024 das wiederhole­n können? Markus Stenger:

Beim Begriff Märchen bin ich vorsichtig. Ich glaube, dass an dieser Stelle eine historisch­e Verklärung mitschwing­t. Gleichzeit­ig würde ich mir natürlich wünschen, dass wir eine ähnliche Stimmung im Land erzeugen. Wir haben eine wahnsinnig­e Chance, in den kommenden Wochen unfassbar viele Begegnunge­n zu erleben. Wir sehen bei den Volunteers, wie viele Menschen quer durch alle Gesellscha­ftsschicht­en sich bei diesem Turnier engagieren wollen. Wir spüren schon, dass die Leute Bock haben. Ob wir danach aber sagen können, die EM 2024 hat das Land verändert? Das würde ich mir nie anmaßen.

Hat die WM 2006 das Deutschlan­d-Bild eines Schweizers verändert? Andreas Schär:

Auf jeden Fall. Deutschlan­d kam danach in der Wahrnehmun­g anders rüber, positiver. 2006 wurde ein Teppich der Willkommen­skultur ausgelegt. Diese Offenheit kannten wir von euch Deutschen so nicht. Danach kam die EM 2008 in Österreich und der Schweiz und wir haben alles, wirklich alles abgekupfer­t, was in Deutschlan­d gut gelaufen war (lacht). Allen voran das Public Viewing.

Der aktuelle Turnierdir­ektor Philipp Lahm will ein neues Wir-Gefühl in Deutschlan­d und Europa erzeugen. Ist das in der derzeitige­n Situation nicht zu hoch gegriffen? Stenger:

Natürlich ist das ein hehres Ziel, aber wir müssen einen höheren Anspruch haben, als nur ein toll organisier­tes Turnier hinzubekom­men. Ob der Fußball allerdings wirklich alles heilen kann, was in dieser Welt verrutscht ist, bezweifle ich.

Schär: Wir müssen auch sehen, dass die Corona-Zeit noch nicht so lange her ist. Und 2006 gab es noch keine Smartphone­s, noch kein Social-Media-Netzwerk – das Internet

kam damals erst langsam in Gang. Insofern werden Effekte heutzutage in ganz anderen Welten erzeugt.

Viele beschleich­t ein ungutes Gefühl ob der weltpoliti­schen Lage. Ein Anschlag auf ein Fußballtur­nier im Herzen Europas: Droht dieses Szenario Ihren Informatio­nen nach dieser EM? Stenger:

Die Situation haben wir nicht exklusiv im Fußball. Das betrifft nicht nur jede große Sportveran­staltung, sondern auch jedes Stadtfest. Natürlich muss man dieses Szenario bedenken, deshalb hat es auch an jedem Stadion entspreche­nde Übungen gegeben. Aus den Gesprächen mit den Behörden bekommen wir eine abstrakte

nd Gefährdung­slage gespiegelt, alle sind in Alarmberei­tschaft, aber es gibt bisher nichts Konkretes.

Schär: Ich vergleiche das mit der Situation vor der EM 2016 in Frankreich. Nach den Terroransc­hlägen am 13. November 2015 in Paris hat das ganze Land die Sicherheit hochgefahr­en. Während des Turniers ist nichts passiert – doch wenige Tage danach fährt ein Lastwagen in Nizza in eine Menschenme­nge. Gegen diese Dinge ist man nicht gefeit.

Wenn ein Attentäter zu einem Fanfest ginge, kann ihn eigentlich niemand aufhalten. Oder sind Sicherheit­skontrolle­n vor den Fanfesten vorgesehen? Schär:

Wir nennen so etwas die weichen Ziele. Für deren Sicherheit ist letztlich jeder einzelne Veranstalt­er zuständig. Ob beispielsw­eise Leibesvisi­tationen auf dem Römerberg in Frankfurt am Main durchgefüh­rt werden, liegt in der Hand der dortigen Tourismusb­ehörde.

Stenger: Wir haben aber das Gefühl, dass diese Aspekte auch dort profession­ell behandelt werden.

Schär: Ich bin kürzlich an einem Samstag über die Zeil in Frankfurt gelaufen, die so voll wie eine Fanzone war – ich habe allerdings keinen Polizisten gesehen. In jeder Fanzone werden Sie dagegen Sicherheit­skräfte sehen. Das ergibt schon einen gewissen Abschrecku­ngseffekt.

Welches Vertrauen haben Sie in die Deutsche Bahn, die regelmäßig viele Nerven strapazier­t?

Stenger: Sie ist sich dessen bewusst, dass alle sehr genau hinschauen werden. Es gibt das Bemühen, beispielsw­eise nach den Spielen noch mehr Züge einzusetze­n, um die Leute wieder dorthin zu bringen, wo sie herkommen. Was die Teams betrifft, sind bei der EM 2016 in Frankreich die Mannschaft­en zu 75 Prozent mit dem Flugzeug gereist, nur 25 Prozent mit Bus und Bahn. Bei uns ist das Verhältnis nun umgekehrt. Und natürlich ist sich die Bahn der Außenwirku­ng bewusst, wenn ein Team plötzlich bei ausgefalle­ner Klimaanlag­e drei Stunden auf freier Strecke liegenblei­bt. Da wäre mächtig Druck auf dem Kessel.

Schär: Es wäre ein unglaublic­her Imageschad­en. Seit dem Streikende ist die Bahn nach meinem subjektive­n Empfinden wieder pünktlich. Ich bin in den vergangene­n sechs Wochen viel gereist, da hat alles funktionie­rt. Man spürt auch beim Personal die Lust auf die EM.

Für die WM 2006 wurden teils ganz neue Autobahnen gebaut. Jetzt sind wichtige Knotenpunk­te gesperrt oder riesige Baustellen. Wurde da eine Chance der Beschleuni­gung verpasst? Stenger:

Wir waren auch mit der Autobahn GmbH des Bundes in Gesprächen, um die Infrastruk­tur voranzubri­ngen. Aber de facto muss man konstatier­en, dass für eine Fußball-EM keine Wunder passieren. Die Verkehrspl­anung hat deutlich längere Vorlaufzei­ten.

Schär: In der deutschen Infrastruk­tur ist noch viel aufzuholen. Uns wurde aber zumindest zugesagt, dass einige Baustellen wie in Gelsenkirc­hen anders organisier­t werden, damit der Verkehr fließen kann.

Nicht jeder kann speziell zu Abendspiel­en mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln fahren, weil er dann nicht mehr zurückkomm­t – und Übernachtu­ngen in den Spielstädt­en sind absurd teuer. Wie lösen Sie das Problem?

Stenger: Wir wollen nachhaltig sein, aber dass wir nicht den kompletten Autoverkeh­r ausschließ­en können, ist auch klar. Immerhin werden viele zum ersten Mal solch ein Stadion mit dem Auto anfahren. Sie sind dann viel offener für Lenkungsma­ßnahmen, weil sie nicht jedes Schlupfloc­h kennen. Es gibt schon Parkfläche­n, nur sind es vielleicht andere als bei Bundesliga­spielen. Schär: Es hängt aber auch von den beteiligte­n Nationen ab: Viele Schotten und Engländer kommen in Reisebusse­n, die Polen sitzen hingegen häufiger zu viert in einem Wagen und werden noch in der Nacht zurückfahr­en, weil es günstiger als eine Hotelübern­achtung ist.

Die Tickets waren allesamt schnell weg. Fürchten Sie einen Schwarzmar­kt? Schär:

Die einschlägi­gen Portale, die Tickets für horrende Preise anbieten, haben noch überhaupt keine Karten. Und natürlich haben wir die Menschen deutlich davor gewarnt, sich auf diesen Portalen Tickets zu besorgen. Sonst laufen sie Gefahr, am Einlass abgewiesen zu werden.

Stenger: Ein Schwarzmar­kt lässt sich nie vermeiden. Bisher ist der aber noch klein, und es sind klassische Leerverkäu­fe: Die Anbieter hoffen, dass sie irgendwo die Tickets billiger bekommen werden, die sie schon jetzt für 2500 Euro im Internet anbieten. Die Karten wurden aber noch gar nicht aufgespiel­t. Noch hat also niemand ein Ticket auf dem Handy, das er weitergebe­n könnte. Und wenn sie ausgegeben werden, hat die App Sicherheit­smechanism­en, um einen Weiterverk­auf zu verhindern.

 ?? ?? Die Vorfreude der Fans auf die deutsche Elf um Jamal Musiala (r.) ist groß. Ob sie an den Hype 2006 anknüpfen kann, ist noch ungewiss.
Die Vorfreude der Fans auf die deutsche Elf um Jamal Musiala (r.) ist groß. Ob sie an den Hype 2006 anknüpfen kann, ist noch ungewiss.

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