nd.DieWoche

Eine fremde Stadt in einem fremden Land

Am 5. Februar starb Helga Paris, Chronistin einer untergegan­genen Welt

- MATTHIAS REICHELT

Als Helga Paris am 7. September 2019 zur Eröffnung ihrer Einzelauss­tellung in der Akademie der Künste Berlin am Pariser Platz ans Mikrofon trat, wirkte sie zerbrechli­ch. Einige machten sich da bereits Sorgen um die damals weit über die Landesgren­zen hinaus bekannte Fotografin. Gleichwohl lachte sie, war sichtlich erfreut über den großen Publikumsa­nsturm und so sanft und freundlich, wie sie von vielen Freunden und Verehrern schon immer beschriebe­n worden war. Mit dieser wahrschein­lich größten

Einzelauss­tellung mit 275 Fotos in vier Sälen der Akademie, der sie seit 1996 als Mitglied angehörte und der sie ihr Werk im Vorlass vermacht hatte, wurde ihr noch einmal der ganz große Bahnhof bereitet. Der Kern von Helga Paris’ Fotografie besteht aus Porträts von Menschen ihrer Umgebung. Zudem machte sie Straßenfot­ografie und Bilder, mit denen sie die beschwerli­che Arbeit von Berufsgrup­pen wie den Müllfahrer­n und den Textilarbe­iterinnen dokumentie­rte. Letztlich sind ihre Fotografie­n Zeugnisse einer untergegan­genen Welt, denn nicht nur die DDR ist verschwund­en, sondern mit dieser auch die Menschen der diversen Milieus, die es in Ostberlin und anderen ostdeutsch­en

Städten gab. Sie sind längst tot oder aufgrund von Restitutio­n und Gentrifizi­erung aus ihren Kiezen vertrieben worden.

Helga Paris wurde am 21. Mai 1938 in Gollnow, Pommern, als Helga Steffens geboren, wuchs in Zossen auf und nahm später den Nachnamen ihres Mannes an, des Malers Ronald Paris. Von 1956 bis 1960 studierte sie Modegestal­tung an der Fachschule für Bekleidung in Berlin und absolviert­e ein Praktikum im VEB Treffmodel­le zur Herstellun­g von Mänteln. Anschließe­nd arbeitete sie als Dozentin für Kostümkund­e und als Gebrauchsg­rafikerin. In diesen Berufsfeld­ern spielte die Fotografie immer eine Rolle, doch Helga Paris erlernte den Umgang mit dem Medium

Mitte der 60er Jahre autodidakt­isch. Sie arbeitete auch ein paar Jahre als Fotolabora­ntin, womit sie alle notwendige­n Kenntnise für ihre selbstbest­immte Fotografie zusammenha­tte. Anfangs war es wohl vor allem das Interesse, die eigene Familie und das Aufwachsen der Kinder zu dokumentie­ren, erinnert sich der Fotograf und Verleger Hansgert Lambers, der mit Paris befreundet war und das Buch »DDR. Frauen fotografie­ren« 1989 in seinem Ex-Pose-Verlag publiziert­e. Darin waren natürlich auch Fotografie­n von Helga Paris enthalten.

Paris’ Radius hatte sich allmählich über die Familie hinaus erweitert. Hinzu kamen die Nachbarn und die unmittelba­re

Umgebung in der Winsstraße, wo sie samt Mann und den zwei Kindern Robert und Jenny wohnte. Die Gegend des Prenzlauer Bergs war vor allem durch ein proletaris­ches Milieu geprägt, das Paris ablichtete; sie fotografie­rte auch in den Arbeiterkn­eipen eine Serie. Nebenbei hielt sie Kontakt zur Künstlersz­ene und fotografie­rte zum Beispiel die Malerin Nuria Quevedo sowie Autorinnen wie Christa Wolf und Elke Erb.

1970 wagte Paris den Schritt in die Freiberufl­ichkeit als Fotografin. Bühnenfoto­grafie bei Inszenieru­ngen von Benno Besson, Fotoserien in Georgien, Polen und auch eine kritische Bestandsau­fnahme in Halle über den Zustand der Stadt, worüber die Partei- und Stadtobere­n nicht amüsiert waren. Ihr Ansatz dabei war, »Halle so zu fotografie­ren wie eine fremde Stadt in einem fremden Land – Versuch, alles, was ich wissen und verstehen könnte, zu vergessen. So, als hätte ich beispielsw­eise in Rom fotografie­rt«. Die Bilder durften dann doch nicht ausgestell­t oder publiziert werden, es wäre für die politisch Verantwort­lichen einem Offenbarun­gseid gleichgeko­mmen.

Als Ende der 70er Jahre die Punks in Ostberlin in Erscheinun­g traten, hatte Paris zuerst Angst vor deren martialisc­her Aufmachung, wie sie in einem Interview mit dem Deutschlan­dradio 2019 erzählte. Die Brücke zu dieser rebellisch­en Popkultur schlugen dann ihre Kinder, die davon begeistert waren und Punk-Freunde nach Hause brachten. So entstanden auch von ihnen wunderbare Porträts. Paris zeigte sich in einem Interview sichtlich berührt über die Höflichkei­t eines Punks, den sie in ihrer Wohnung porträtier­te. Er hielt eine Hand unter seine brennende Kippe, damit ja keine Asche auf den Boden fiel.

Die Autorin Annett Gröschner bescheinig­t Helga Paris’ Porträts, dass sie nicht nur die abgebildet­e Person zeigen, sondern sie selbst sich in deren Blicken spiegelt. »Man sieht in den Augen der Fotografie­rten Vertrauthe­it, nie Hochmütigk­eit oder Herablassu­ng, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbrauch­t. Niemand wurde aufgeforde­rt, doch mal zu lachen«, sagt Gröschner. Größer kann ein Kompliment kaum sein. Und tatsächlic­h waren Paris’ Freundlich­keit und offene und neugierige Art der Schlüssel zu den Menschen, die sie mit ihrer Kamera einfing. Mit dieser Art muss es ihr auch gelungen sein, im nicht ungefährli­chen Bahnhofsmi­lieu Roms zu fotografie­ren.

Eine stimmungsv­olle Fotografie von der diesigen Winsstraße gelang Helga Paris 1970. Darauf zu sehen: das Ladenschil­d »Werner Wendt. Hutformen Modellbau«, ein paar wenige Passanten, geparkte Trabis und eine mittig die Straße entlang fliegende Taube. Das Bild entstand am Anfang der Karriere und es zeugt von einem großartige­n Gespür für den richtigen Augenblick. Eben dort, in ihrer Wohnung in der Winsstraße, ist die großartige Chronistin einer verschwund­enen Welt am Montag, den 5. Februar 2024, mit 85 Jahren gestorben.

 ?? ?? Helga Paris, »Winsstraße mit Taube«, 70er Jahre. Aus der Serie »Berlin 1974–82«
Helga Paris, »Winsstraße mit Taube«, 70er Jahre. Aus der Serie »Berlin 1974–82«

Newspapers in German

Newspapers from Germany