nd.DieWoche

Falsch abgebogen?

Linke diskutiert­en noch einmal den Revisionis­musstreit

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Heute dürften den meisten Linken die Begriffe Revisionis­mus und Anti-Revisionis­mus wenig sagen. Dabei geht es um einen zeitweise in der kommunisti­schen Bewegung erbitterte­n Streit darüber, wann die Sowjetunio­n vom Weg in eine kommunisti­sche Gesellscha­ft abgekommen sei. Rätekommun­ist*innen würden das Jahr 1921 nennen, als der Matrosenau­fstand von den Bolschewik­i niedergesc­hlagen wurde. Andere setzen bei der Ausschaltu­ng von Trotzki und seinen Anhänger*innen an. Und es gibt Strömungen, die den 20. Parteitag als Beginn sehen, als Chruschtsc­how in einer Geheimrede mit der Stalin-Herrschaft zumindest in Teilen brach.

Vom 25. bis 27. Januar sorgte der Revisionis­musstreit auf der Europäisch­en Platypus-Konferenz an der Berliner Humboldt-Universitä­t für Diskussion­en, die dem 100. Todestag von Lenin gewidmet war. Bei der Podiumsdis­kussion über die Krise im sozialisti­schen Lager sorgte schon die Besetzung für Kontrovers­en. Dieter Ilius von der MLPD traf auf einen Vertreter der trotzkisti­schen Spartakist-Arbeiterpa­rtei. Dabei handelt es sich um zwei randständi­ge Gruppen der Linken, die wohl selten zusammen auf einem Podium sitzen, weil sie völlig verschiede­ne Pole des sozialisti­schen Spektrums repräsenti­eren.

Illius betonte, dass er seine Partei nicht als stalinisti­sch verstehe, und kündigte an, dass die MLPD demnächst Texte herausgege­ben werde, die auf die großen Fehler von Stalin eingingen. Gleichwohl betonte er, dass die MLPD Stalin für seine Verdienste würdige, wozu er auch den Sieg über den Nationalso­zialismus zähle. Der Spartakist-Vertreter interessie­rte sich wenig für historisch­e Themen. Er warf der MLPD vor, sich nicht genügend von der »bürgerlich­en Führung in den Arbeiter*innenparte­ien und DGB-Gewerkscha­ften« abzugrenze­n. Beide Referenten hatten ihre Unterstütz­er*innen im Publikum.

Zu kurz kam in der Debatte der Historiker Ewgeniy Kasakow, der Erhellende­s beizutrage­n hatte: So konnte er mit Zitaten nachweisen, dass Stalin tatsächlic­h in vielen Fragen genau die Positionen vertrat, die manche seiner Verteidige­r*innen an anderer Stelle als Revisionis­mus brandmarke­n.

Die Diskussion verschafft­e den Eindruck einer Zeitreise in die frühen 1970er Jahre. Damals stritten sich in kommunisti­schen Aufbauorga­nisationen meist junge Akademiker*innen intensiv darüber, wann der Revisionis­mus in der Arbeiter*innenbeweg­ung begonnen hatte. Die Frage bleibt, was solche Debatten zu einer Erneuerung der gesellscha­ftlichen Linken heute beitragen. Es blieb auch offen, warum ausgerechn­et die beiden Vertreter von Spartakist und MLPD eingeladen wurden. Vielleicht sollte so wirklich eine Debatte der sich widersprec­henden Strömungen ausgetrage­n werden? Oder aber es ging um den Unterhaltu­ngswert, den die Diskussion zweifellos hatte. So bleibt das ernüchtern­de Fazit, dass die Konferenz eine Spielart des Seminarmar­xismus war, die an den Problemen für eine aktuelle gesellscha­ftliche Linke vorbeigeht. Peter Nowak

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