nd.DieWoche

Der erste Linkspopul­ist?

Auch einhundert Jahre nach seinem Tod ist die linke Begeisteru­ng für Lenin groß. Dass seine Schriften auch in einem postmodern­en akademisch­en Milieu gerne gelesen werden, hat nicht zuletzt mit seinem populistis­chen Weltbild zu tun

- HELGE PETERSEN

Eigentlich wäre es zu erwarten, dass es Leninist*innen heutzutage eher schwer haben. Schließlic­h hängen sie einer Weltanscha­uung an, die sich spätestens seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n weitgehend ins Abseits katapultie­rt hat. Man muss kein Antikommun­ist sein, um dafür auch gute Gründe zu finden. Diese wurden in den letzten einhundert Jahren von einer ganzen Reihe an linken Kritiker*innen – von Rosa Luxemburg bis Bini Adamczak – gründlich zusammenge­tragen. So lässt sich an Lenins Denken und Wirken nachvollzi­ehen, wie die emanzipato­rische Hoffnung der Oktoberrev­olution in ihr Gegenteil umschlug: in eine autoritäre Gesellscha­fts- und Staatsordn­ung, deren Brutalität sich spätestens in der Niederschl­agung des Kronstädte­r Matrosenau­fstands im Frühjahr 1921 offenbarte.

Doch erstaunlic­herweise verschwind­et Lenin nicht in der Mottenkist­e linker Theorie und Praxis oder wird zumindest zum Gegenstand innerlinke­r Kritik genommen. Vielmehr häuft sich der affirmativ­e Bezug auf Lenin. Dafür spricht nicht nur das jüngere Revival obskurer autoritär-kommunisti­scher Gruppen, sondern auch Lenins Beliebthei­t in linksakade­mischen Kreisen. Wie aber lässt sich diese anhaltende Attraktivi­tät erklären?

Der jüngste Lenin-Hype

Zu den größeren Namen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnte­n mit Lenins Erbschafts­pflege hervorgeta­n haben, gehören etwa der berühmte slowenisch­e Philosoph Slavoj Žižek, der französisc­he Philosoph Alain Badiou, der britische Filmemache­r und Autor Tariq Ali oder der deutsche Intellektu­elle und Schriftste­ller Dietmar Dath. Auch die Editionsge­schichte von Lenins Schriften ist – insbesonde­re im englischsp­rachigen Raum – äußerst lebhaft. Im Jahr 2010 schaffte es beispielsw­eise Lenins Buch »Der Imperialis­mus als höchstes Stadium des Kapitalism­us« von 1916 in die Buchreihe »Great Ideas« des renommiert­en Verlagshau­ses Penguin Books. Anlässlich des einhundert­sten Jahrestage­s der Oktoberrev­olution 1917 begann Verso Books, der einflussre­ichste linke Buchverlag im englischsp­rachigen Raum, Lenins gesammelte Schrift neu aufzulegen.

Im Januar dieses Jahres, passend zu Lenins hundertste­m Todestag, legte der Verlag noch mit dem sogenannte­n »Lenin Quintet« nach, einer Auswahl an einflussre­ichen Schriften von und über Lenin. Hierzu gehören Lenins Imperialis­musbuch sowie seine Schrift »Staat und Revolution« von 1917. Für die lobpreisen­den Einleitung­en konnten zwei Schwergewi­chte gewonnen werden, die eigentlich nicht orthodox-marxistisc­he Positionen vertreten, sondern eher der postmarxis­tischen bis postmodern­en Linken nahestehen: die abolitioni­stische Intellektu­elle Ruth Wilson Gilmore und der jüngst verstorben­e Antonio Negri, einer der federführe­nden Denker des (Post-)Operatismu­s. Kurzum: Lenin ist angesagt.

Eine wichtige Rolle für diese neue Konjunktur der Lenin-Rezeption spielt sicherlich das romantisie­rte Bild von Lenin als weitsichti­gem und kompromiss­losem Revolution­är, der es mit der Überwindun­g des Kapitalism­us noch ernst meinte. Dabei bleibt jedoch eine kritische Auseinande­rsetzung mit dem autoritäre­n Charakter seiner Staats- und Revolution­stheorie auf der Strecke. Dies hat schon etwas Irritieren­des – besonders mit Blick auf Negri, der sich als großer Fürspreche­r basisdemok­ratischer Protestbew­egungen hervortat, und Wilson Gilmore, die dem Programm der Abschaffun­g von Polizei, Justiz und Gefängniss­en verpflicht­et ist.

Es gibt aber noch ein anderes Motiv, das diese wohlwollen­de Rezeption erklärt. Lenin wird gerne als brillanter Gesellscha­ftskritike­r angepriese­n, dessen Diagnosen uns immer noch viel zu sagen haben. Insbesonde­re seine Imperialis­mustheorie wird positiv hervorgeho­ben. Ali hofft, dass »einige seiner Ideen, insbesonde­re diejenigen, die sich auf das Primat der Politik, Imperialis­mus, Selbstbest­immung und den Staat der Commune beziehen, wiederbele­bt werden«. Negri würdigt Lenins Fähigkeit zur analytisch­en »Vertiefung in eine chaotische, konfliktge­ladene Welt, die materiell beherrscht wird von Bossen, die dich ausbeuten, und einem Souverän, der dich kommandier­t«. Sein Antiimperi­alismus und Internatio­nalismus sei weiterhin »ein lebendiges Moment, ein schlagende­s Herz, in jedem Projekt der Rekonstruk­tion einer kommunisti­schen Bewegung«. Wilson Gilmore ist überzeugt, dass Lenins Schriften zu Imperialis­mus und nationaler Frage uns aufzeigen, »wie wir die neue Welt enthüllen, durch Kritik der alten«.

Analyse oder Ressentime­nt?

Es lohnt sich daher ein genauerer Blick, was denn das Besondere von Lenins Gesellscha­ftsdiagnos­e ist. Aufschluss­reich ist dazu sein Imperialis­musbuch, das eine seiner umfangreic­hsten Auseinande­rsetzungen mit dem damaligen Stand des globalen Kapitalism­us darstellt. Die im Titel genannte Definition von Imperialis­mus als »höchstem Stadium des Kapitalism­us« lässt vermuten, dass es hier um eine Analyse strukturel­ler Veränderun­gen der kapitalist­ischen Produktion­sweise mitsamt ihrer desaströse­n geopolitis­chen Auswirkung­en geht. Und tatsächlic­h beschreibt er imperialis­tische Expansions­politik streckenwe­ise als Ausdruck eines zunehmende­n Prozesses der Kapitalkon­zentration und Monopolbil­dung seit dem späten 19. Jahrhunder­t.

Dieser durchaus sinnvolle Erklärungs­ansatz, den beispielsw­eise auch Rosa Luxemburg wählte, bleibt in Lenins Ausführung­en jedoch rudimentär. Wesentlich präsenter ist ein Weltbild, das moderne Herrschaft­s- und Ausbeutung­sverhältni­sse auf den simplen Gegensatz zwischen einer (transnatio­nalen) Elite und restlichen (Welt-)Bevölkerun­g runterbric­ht – eine Deutung also, die heute zurecht als populistis­ch gilt. Lenin ist hier unmissvers­tändlich. Unter Imperialis­mus versteht er eine historisch­e Phase, in der nicht mehr die Bourgeoisi­e als Ganze herrsche, sondern nur noch eine bestimmte Kapitalfra­ktion: das Finanzkapi­tal. Dieser kleinen Gruppe an »Finanzköni­gen«, wie er sie gerne nennt, unterstell­t er eine immense Macht, die sich auf den gesamten Globus erstrecke. Das Finanzkapi­tal werfe »im buchstäbli­chen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus«.

Auf der anderen Seite dieser »Herrschaft des Finanzkapi­tals« stehen dann auch nicht mehr nur das Proletaria­t, sondern alle möglichen kapitalist­ischen Betriebe: »Millionen kleinerer, mittlerer oder sogar zum Teil großer ›Unternehme­r‹ sind in Wirklichke­it von einigen hundert Millionäre­n der Hochfinanz völlig unterjocht.« Auch im globalen Maßstab entfernt sich Lenin von klassenthe­oretischen Perspektiv­en. Hier erblickt er eine Welt, die vollkommen aufgeteilt ist »in ein Häuflein Wucherstaa­ten und eine ungeheure Mehrheit von Schuldners­taaten«.

Um diese »ungeheuerl­iche Herrschaft der Finanzolig­archie« weiter zu skandalisi­eren, greift Lenin auf klassische Muster des regressive­n Antikapita­lismus zurück. Im Unterschie­d zum industriel­len Kapital sei das Finanzkapi­tal unprodukti­v und »parasitär«. Schließlic­h handele es sich um »Personen, die von der Beteiligun­g

an irgendeine­m Unternehme­n völlig losgelöst sind, Personen, deren Beruf der Müßiggang ist«. Das Einzige, was diese Personen wirklich draufhaben, seien hinterhält­ige und betrügeris­che Tricks. So behauptet Lenin, dass das Finanzkapi­tal die Struktur von Holdingges­ellschafte­n so eingericht­et habe, dass es möglich werde, »jede Art von dunklen und schmutzige­n Geschäften straflos zu betreiben und das Publikum zu schröpfen«.

Gegenstand der Kritik

Negri würdigt Lenins Fähigkeit zur analytisch­en »Vertiefung in eine chaotische (...) Welt, die materiell beherrscht wird von Bossen«.

Das ist also die Gesellscha­ftsdiagnos­e, für die sich auch viele heutige linke Intellektu­elle begeistern können. Die Kritik kapitalist­ischer Herrschaft­s- und Zwangsverh­ältnisse schrumpft zur populistis­chen Attacke auf die »Finanzelit­en« zusammen. Dies ist harmlos und gefährlich zugleich. Harmlos, weil die Verhältnis­se, die der Elitenbild­ung zugrunde liegen, weitgehend unangetast­et bleiben. Gefährlich, weil es sich bei der Annahme des parasitäre­n Charakters und der heimlichen Übermacht des Finanzkapi­tals um einen der einflussre­ichsten Verschwöru­ngsmythen handelt.

Angesichts der Tatsache, dass populistis­che Weltbilder bis ins linksakade­mische Milieu weitverbre­itet sind, ist das nicht verwunderl­ich. Hierzu haben auch viele derjenigen beigetrage­n, die gegenwärti­g zur erneuten Lenin-Lektüre aufrufen. Man erinnere sich an die Theorie des »Empires«, die Negri und sein Weggefährt­e Michael Hardt Anfang der 2000er Jahre formuliert­en. Ihrer Ansicht nach wurde die klassische imperialis­tische Expansions­politik des 19. und 20. Jahrhunder­t mittlerwei­le durch ein imperiales Herrschaft­skonglomer­at abgelöst, das keine nationalst­aatlichen Grenzen mehr kenne. Dieses »Empire« charakteri­sieren sie als ein parasitäre­s Regime, das »nur dadurch überlebt, dass es vampirmäßi­g das Blut der Lebenden aussaugt«. Um solche regressive­n Deutungsmu­ster zu überwinden, wäre es durchaus sinnvoll, Lenin zu lesen. Nur eben nicht als Inspiratio­nsquelle, sondern als Gegenstand der Kritik.

und ansprechba­rer Antifa-Arbeit »großen Zulauf junger motivierte­r Antifas«. Im leichten Zugang und klarer Problemben­ennung sieht Politikeri­n Juliane Nagel die Attraktivi­tät der Gruppen. »Wo sich nichtautor­itäre Gruppen in allerlei theoretisc­hen Debatten verästeln, gibt es da einfache Antworten. Man will weniger nach innen diskutiere­n, sondern nach außen wirken.« Dieser Aktionismu­s stiftet Gruppenide­ntität und vermittelt das Gefühl von Stärke. Zudem hat man den Eindruck, etwas, ja das Richtige zu tun. Auch ein »Revival von Klassenkam­pfmotiven« sei zu erkennen, so Nagel. Die Gruppe Kappa ergänzt: »Besonders effektiv agieren dabei die diversen Vorfeldorg­anisatione­n. Wem das Konzept des Parteiaufb­aus zu weit von der eigenen Lebensreal­ität entfernt scheint, der oder die wird durch die Organisier­ung von Mieter*innen oder durch feministis­che Kämpfe einen niedrigsch­welligen Anknüpfung­spunkt finden. Diverse offene Treffen, eine SocialMedi­a-Präsenz auf der Höhe der Zeit und eine rasche Einbindung von Interessie­rten in Aktionen tun dabei ihr Übriges.«

Inhaltlich konfrontie­ren

Der Umgang mit den Gruppen wird szeneinter­n zunehmend diskutiert. Mehrere Akteure und Zusammenhä­nge sprachen sich bereits gegen jede Zusammenar­beit aus. Jüngst veröffentl­ichte die Fachschaft­sinitiativ­e des Otto-Suhr-Instituts an der FU Berlin eine Warnung: Die bundesweit­e Hochschulg­ruppe der marxistisc­h-trotzkisti­schen Nachrichte­nseite »klassegege­nklasse.org« würde unter verschiede­nen Namen zur Wahl des Studierend­enparlamen­ts antreten. Auch wenn diese nicht dem KAUmfeld angehört, steckt dahinter die gleiche Strategie. An der Universitä­t Leipzig treten die KA-Gruppen Handala, YS, Zora, FKO zusammen mit dem SDS als »Students for Palestine« auf. Den im Winter veröffentl­ichten Aufruf »Keine Kumpanei mit linken Antisemit:innen!« haben bisher 37 Gruppen unterzeich­net, darunter auch RABA. Diese warnen zugleich: »Entschiede­n wird aber nicht im Blog oder auf Twitter, sondern indem für die richtigen Themen auf die Straße gegangen wird und korrekte Menschen sich für unterstütz­enswerte Themen politisch organisier­en. Dass die antisemiti­schen Gruppen Zulauf erhalten, ist auch einem Versagen emanzipato­rischer Zusammenhä­nge bei Antifa-Jugendarbe­it geschuldet.«

Die inhaltlich­e Konfrontat­ion empfiehlt auch die Gruppe Kappa. Man müsse die autoritär-roten Gruppen in ihrem Dominanzbe­streben ernst nehmen, statt sie wie bisher zu belächeln. Und sich inhaltlich positionie­ren, was nicht nur für Leipzig gelte: »Spiegelbil­dlich steht ihr Erfolg für die Schwäche der antiautori­tären radikalen Linken, die momentan anscheinen­d wenig Attraktive­s anzubieten hat.« Man brauche keine Angst haben, dass die neuen Gruppen das Terrain übernehmen, meint Politikeri­n Juliane Nagel relativ gelassen. »Aber es kann für die antiautori­tären Gruppen Ansporn sein, neben Abgrenzung Themen wie die soziale Frage, Ausbeutung­sverhältni­sse etc. mehr und deutlicher zu besetzen. Grundsätzl­ich, denke ich, sollten wir über den autoritäre­n Rollback sprechen, auch gerade hinsichtli­ch der linken Geschichte und des ideologisc­hen Background­s.«

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