»Privilegierte Eltern versuchen, sich im Bildungssystem abzuschotten«
Während Berlins Kieze sozial immer gemischter werden, zeigt sich eine gegenteilige Entwicklung an den Schulen
Der SAP-Gründer Hasso Plattner sorgte kürzlich mit einem Interview in der »NZZ« für Aufsehen. Dort behauptete er, dass in Berlin »ganze Stadtteile scheinbar übernommen wurden von Arabern«. Herr Vief, Sie forschen zur sozialen Mischung in Berlin, würden Sie die Aussage unterschreiben?
Das Interview hat mich geärgert, weil ich natürlich die kleinräumigen Daten in Berlin sowie meine Analysen kenne und weiß, dass das einfach Quatsch ist. Zumindest was die Segregation betrifft, also die Ungleichverteilung von Gruppen über die Stadt hinweg. Und Hasso Plattner hat natürlich auf ein rassistisches Ressentiment angespielt. Über die letzten zehn Jahre sind vor allem durch den Krieg in Syrien deutlich mehr Menschen zugewandert. Die Idee im Kopf vieler ist dann, dass alle Menschen mit arabischer Herkunft sich in bestimmten Stadtteilen wie im Norden von Neukölln ansiedeln würden.
Das entspricht aber nicht der Realität? Historisch gesehen ist es teilweise der Fall, dass diese Gruppen sich eher in bestimmten Gebieten wie Neukölln oder Wedding und klassischerweise im Westteil der Stadt konzentrierten. Aber gerade bei Menschen arabischer Herkunft ist das Niveau der Segregation massiv gesunken. Menschen aus arabischen Herkunftsländern leben jetzt viel gleichmäßiger in der Stadt verteilt, als es noch vor zehn Jahren der Fall war, ungefähr auf dem Niveau von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Trotzdem ist auch in den Medien von der Bildung von sozialen Ghettos die Rede. Empirisch ist es exakt andersherum.
Was sind die Gründe für diese Entwicklung?
Manche Gebiete, wo es relativ starke Konzentrationen gab, sind mittlerweile die Gebiete, die starke Mietsteigerungen erfahren haben. Also klassischerweise Neukölln, Teile von Kreuzberg, Wedding oder Moabit. Wer jetzt dort hinziehen will, findet nicht das gleiche Wohnungsangebot vor, wie das noch vor zehn Jahren der Fall war. Zum Teil hängt die Abnahme der Segregation also mit bestimmten Gentrifizierungsprozessen zusammen.
Stichwort Gentrifizierung: Hat es eigentlich auch Vorteile, wenn so eine Mischung nicht stattfindet, wenn beispielsweise ärmere Bevölkerungsgruppen unter sich bleiben können?
Das ist eine ziemlich schwierige und stark debattierte Frage in der Stadtforschung. Natürlich würde man meistens sagen: Wenn ein erzwungener Wegzug stattfindet, hat das keinen positiven Effekt, weil dann viele Alltagsroutinen und soziale Kontakte erst einmal wegbrechen. Aber gesamtgesellschaftlich betrachtet ist eine stärkere Durchmischung eher gut, weil es zumindest die Chance erhöht, dass man als reiche Person mal mit Armen konfrontiert wird.
Oder dass man als arme Person vielleicht auch sieht, was mit mehr Ressourcen möglich sein kann.
Kommt es denn automatisch zum Austausch?
Es ist kein Selbstläufer. Viele der Argumente für gemischte Stadtteile beziehen sich auf soziale Netzwerke. Die Frage ist aber, ob diese dann auch wirklich entstehen. Das hängt davon ab: In welchen Kontexten begegnen sich die Menschen eigentlich, wie sieht es in den Schulen, Sportvereinen, Kirchen, Nachbarschaftstreffs aus? Und da ist die Forschung gespalten. Es gibt viele, die sagen, es ist zwar schön, dass die Leute jetzt nebeneinander wohnen, am Ende machen sie dann aber doch nichts miteinander, knüpfen keine Kontakte und unterstützen sich auch nicht gegenseitig. Dann gibt es andere Forschungen, die sagen, so etwas passiert durchaus mehr als in nicht-gemischten Vierteln. Auf jeden Fall sollte man politisch immer versuchen, möglichst viele Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, damit die soziale Mischung etwas Positives hervorbringt. Sonst sieht es halt auf dem Papier nett aus, aber bringt nichts.
Sie haben Schulen angesprochen. Eine politische Vorkehrung bei öffentlichen Grundschulen ist, dass sie ihre Schülerschaft
aus einem festgelegten Einzugsgebiet beziehen. Funktioniert das?
Wenn allgemein die Segregation abnimmt, müsste sie auch in der Zusammensetzung der staatlichen Grundschulen abnehmen. Es verhält sich aber gegenläufig: An den Schulen nimmt die soziale Segregation zu. Am stärksten ist die Abweichung in den neuerdings durchmischten Quartieren. Das liegt nicht nur an Privatschulen. An öffentlichen Schulen stellen manche Eltern Umschulungsanträge und klagen sich ein, damit
Darüber wären vorsichtig formuliert nicht alle froh.
Die Politik wird sich da nicht herantrauen, weil sie Angst vor den privilegierten Eltern hat, die ihnen dann die Hölle heiß machen würden, wenn ihr Kind auf einmal von der Wunschschule umgetragen wird auf die nächste Schule, die deutlich stärker durchmischt ist.
Sind es dann in der Realität nicht viel eher die privilegierten Eltern, die sich
Zum Nachteil derer, die das Geld dafür nicht haben?
In der Bildungsforschung geht man davon aus, dass von einem wenig segregierten Schulsystem am meisten die Schülerinnen und Schüler mit einem niedrigen sozioökonomischen Status profitieren. Dass wir gerade eine Entwicklung genau in die andere Richtung sehen, ist ein negativer Effekt, den man erst einmal aufhalten und dann im besten Fall natürlich auch umkehren sollte.
Das Mädchen lacht. »Ich pflanze einen Apfelbaum.« Der Junge neben ihr: »Ich pflanze einen Apfelbaum und einen Birnenbaum.« Die Mutter schließt sich an: »Ich pflanze einen Apfelbaum, einen Birnenbaum und einen Kirschbaum…« Und schon muss das erste Kind in der Runde überlegen. Wir sind zu Gast bei der Jugendorganisation Hashomer Hatzair, genauer gesagt bei der Feier zum jüdischen Feiertag Tu biSchevat. »…Apfelbaum, einen Birnenbaum, einen Kirschbaum und einen Pfirsichbaum…«
Tu biSchevat, das Neujahrsfest der Bäume, liege eigentlich schon ein paar Tage zurück, wie die jugendliche Spielleiterin erklärt. Sie dürfte keine 16 Jahre alt sein und trägt das weltweit bei Hashomer Hatzair typische Blauhemd, mit weißen Kordeln und weißen Buchstaben, was ein wenig aussieht wie bei den Pfadfindern, und das soll es auch. Einer der Grundsätze hier ist, dass die Jugendlichen ihre Aktivitäten selbst planen und durchführen. Die Referentin hat sich bestens vorbereitet: Tu biSchevat sei eine Art Erntedankfest und gehe auf das dritte Buch Mose zurück, wo in großer Zuversicht geschrieben steht: »Wenn ihr in das Land kommt, sollt ihr allerlei Bäume pflanzen!« Eben diese Bäume aus der Tora sind der Grund, warum die Kinder nicht das Original spielen, kein »Ich packe meine Koffer«.
Vor dem Jugendklub nahe der Berliner Ringbahn stehen Sicherheitsleute, wie zu jedem Treffen seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel. Daniel Goldstein, der Pressesprecher, hat erst am Tag zuvor die Mail geschickt mit dem genauen Treffpunkt. »Die Messiba, das Zusammentreffen der Community des Ken Berlin, startet um 16 Uhr.« Man habe aufgrund der derzeitigen Lage etwas strengere Sicherheitsbestimmungen und auch einen Ordnungsdienst an Ort und Stelle. Einige Eltern, die ihre Kinder zum Ken (hebräisch für Nest) begleiten, sind israelische Staatsbürger, die in Berlin leben und arbeiten. Bei den Veranstaltungen wird aber auch Russisch, Polnisch und Spanisch gesprochen, vor allem aber Deutsch. Die Berliner Ortsgruppe der weltweiten Organisation Hashomer Hatzair (hebräisch für »der junge Wächter«) sieht sich als deutsch-jüdisches Projekt.
Das metaphorische Kofferpacken hatte früher einmal eine ganz reale Bedeutung. Der 1913 im polnischen Galizien gegründete Kinder- und Jugendverband bereitete die jungen Shomrim (hebr.: Wächter) für die Alijah (hebr.: Heimkehr) vor, für die Rückkehr nach Palästina-Erez Israel. Und ihrer waren es nicht wenige. Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Hashomer Hatzair etwa 70 000 Mitglieder in 35 Ländern und rettete so Tausenden Kindern und Jugendlichen das Leben.
Wobei schon immer zwischen zwei Verbänden unterschieden wurde: die israelische Organisation, die schon vor der
Staatsgründung im britischen Mandatsgebiet Palästina aktiv war (und heute um die 14 000 Mitglieder hat) und das World Movement mit derzeit 4500 Shomrim. Ab 1930 war Hashomer Hatzair auch in Deutschland aktiv.
Mit dem 1. September 1939, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, avancierten dann Teile des Verbandes zu einer jüdischen Untergrundorganisation, die gegen die Wehrmacht kämpfte und dafür einen hohen Blutzoll erbrachte, so auch im Jahr 1943 beim Aufstand im Warschauer Ghetto. Viele Mitglieder kämpften später auch in Palästina in den Reihen der Haganah gegen die britische Mandatsmacht. In Israel ist Hashomer Hatzair fast so etwas wie eine Legende. Die »jungen Wächter«, die heutzutage zum Umfeld der linken Meretz-Partei gerechnet werden, haben Dutzende Kibbuzim mitgegründet.
Seit 2012 gibt es Hashomer Hatzair als eigenständige Organisation auch wieder in Deutschland. Nitzan Menagem, die dem Berliner Verband vorsteht und im Berufsleben Projektmanagerin in der politischen Bildungsarbeit ist, erzählt von zaghaften
»Das waren unsere Genossen, die ermordet wurden.«
Annäherungsversuchen mit der Jüdischen Gemeinde Berlin. »Wir sind ein jüdischer Jugendverband, der säkular ist.« Zu Tu biSchevat feiere man die Natur, nicht die Thora. Hashomer Hatzair fühle sich einer säkularen jüdischen Tradition verpflichtet und setze sich für die Interessen von Kindern und Jugendlichen ein.
Im Landesjugendring Berlin arbeiten die Aktiven und Betreuer*innen eng mit den Falken zusammen, dem SPD-nahen Kinderund Jugendverband. Bei diesen, im Luiseund-Karl-Kautsky-Haus in Friedenau, haben sie bislang auch ihr Büro. Der Ken Berlin zählt mittlerweile über 300 Mitglieder, etwa 80 davon sind jünger als 18 Jahre. Manche haben »nur« einen jüdischen Vater oder Großvater und gelten nach den Regeln des orthodoxen Judentums nicht als Juden. »Aber das ist uns egal«, sagt Daniel Goldstein, der Pressesprecher. Sein Großvater war Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, hat Auschwitz und den Todesmarsch nach Buchenwald überlebt. Kurt Goldstein, der langjährige Rundfunkintendant der »Stimme der DDR«, suchte seine politische Heimat
nicht im Zionismus. Das sei aber eine andere Geschichte, sagt sein Enkel, der nun auch schon Ende 40 ist.
»Um vorwärtszukommen, muss man seine Vergangenheit kennen«, lautet ein Sprichwort bei Hashomer Hatzair. Mindestens sieben Shomrim gehörten zur Herbert-Baum-Gruppe, kämpften im Widerstand gegen die Nazis. Für die Suche nach den früheren Mitgliedern in Deutschland wurde der Ken Berlin im vergangenen Jahr mit dem vom Deutsch-Israelischen Freundschaftsforum verliehenen Shimon-PeresPreis ausgezeichnet.
Nitzan Menagem will so bald wie möglich nach Chile fliegen, »zu Rudi«, wie sie mit strahlendem Lächeln erzählt. Rudi Heymann ist das einzige noch lebende Mitglied des früheren Berliner Ken. Demnächst wird er 103 Jahre alt. 1938, im Alter von 17 Jahren, musste er aus Berlin fliehen und lebte erst in einem Kibbuz in Britisch-Palästina, wo er sich dann 1942 der britischen Armee anschloss, um in der Jüdischen Brigade gegen die Deutschen zu kämpfen. Für den Youtube-Kanal von Hashomer Hatzair Berlin haben Jugendliche ein Interview mit Heymann geführt.
Ein Stück Geschichte ist auch Nitzan Menagem, die Vorsitzende des Ken Berlin. Ihre Eltern haben sich bei Hashomer Hatzair kennengelernt, in Israel, wo sie auch aufgewachsen ist. »Ich bin so froh«, sagt die junge Frau, »dass ich eine Kindheit in Israel hatte, ohne Antisemitismus.« Erst will sie darüber nicht reden: Aber Judenhass sei genau das, was sie in den vergangenen Monaten in Berlin erlebt habe. Beinahe ebenso schlimm sei die Erwartungshaltung, Hashomer Hatzair Berlin und auch sie als Vorsitzende sollten doch endlich eine Erklärung zum Gaza-Krieg abgeben. »Politische Statements aber sind gar nicht unser Job. Wir machen Kinder- und Jugendarbeit.« Mehr will Nitzan dazu nicht sagen. Auf die Frage aber, ob sie am 7. Oktober Freunde verloren habe, etwa in den überfallenen Kibbuzim, stockt sie. In den Augen hinter der Vintage-Hornbrille sammeln sich Tränen. Nitzan spricht jetzt leise, aber deutlich: »Das waren unsere Genossen, die ermordet wurden. Leute aus der Friedensbewegung. Auch Frauen und Kinder.«
Gemeinsam mit den Falken sammelt Hashomer Hatzair Berlin Spenden für die zerstörten Kibbuzim. Das Geld ist für die Arbeit mit den evakuierten Juden und Nichtjuden bestimmt, unter anderen für die Notunterkünfte in Aschkelon, Aschdod und Be‹er Scheva.
Hashomer Hatzair wird in Berlin keine Koffer packen. Aber Kisten. Dank der Unterstützung durch die Deutsche Postcode-Lotterie und von Fördermitgliedern sucht man derzeit nach eigenen Räumen. Das Team hat noch viel vor. Wie jedes Jahr wollen die Shomrim ein Sommercamp organisieren, noch dazu einen queeren Hebräisch-Kurs. Und nicht zu vergessen das Purimfest. Auf die Frage, ob auch Gojim, also Nichtjuden, ihre Kinder zu Hashomer Hatzair schicken könnten, sagt Nitzan: »Das geht schon.« Sie lacht laut. »Aber eines muss klar sein: Wir feiern kein Weihnachten!«
Nitzan Menagem Vorsitzende Hashomer Hatzair Berlin