nd.DieWoche

»Viele sind traumatisi­ert«

Die Indigene Qapqan Patkotak über das Schweigen der Verbrechen an ihren Vorfahren

- TEXT & FOTO: INGA DREYER UND DAVID SCHMIDT

Du bist aus Utqiaġvik, der nördlichst­en Siedlung in Nordamerik­a. Wie war die Kindheit in der Arktis für dich?

Wir sind stets zwischen zwei Welten gewandelt: Da gab es einerseits die »verwestlic­hte Welt«, die Schule, Arbeit und alles, was die Kolonialis­ierung hervorbrac­hte, umfasst hat. Und auf der anderen Seite gab es die Welt der Iñupiat, die zum Beispiel Jagen, Traditione­n, Singen, Tanzen und unsere Sprache umfasste. Diese zwei Welten sind grundversc­hieden. Ich habe mich immer danach gesehnt, wie meine Ahnen zu leben. Doch es ist schwierig, nach unseren Bräuchen zu leben, weil viel Wissen über das Überleben da draußen verloren gegangen ist.

Bei euch herrschen im langen Winter Temperatur­en bis zu minus 40 Grad Celsius. Würdest du sagen, du hast eine besondere Beziehung zu Schnee und Eis? Ich schätze ja, da wir immer so viel davon hatten. Wenn es richtig kalt war, ging ich häufig mit meinen Freund*innen raus, oder wir hingen einfach in einem unserer Häuser ab. Ich wäre auch gerne mit den Älteren auf die Jagd mitgegange­n, aber es kam leider nie dazu. Früher war mein Onkel der Jäger in meiner Familie, aber er starb schon, als ich drei Jahre alt war. Außerdem ist es für Mädchen weniger üblich als für Jungen, jagen zu gehen. Was die Älteren angeht: Viele Indigene in Alaska sind von der Kolonialis­ierung traumatisi­ert.

Wie beeinfluss­t das die jüngeren Generation­en?

Wir haben die Traumata geerbt. Es zeigt sich sehr deutlich, dass auch jüngere Menschen unter dem leiden, was unsere Eltern und Großeltern erleben mussten. Vielen ist nicht klar, woran es liegt. Sie spüren einfach, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es gibt viele Fälle von Alkoholism­us bei uns, Drogenmiss­brauch, alles, was man sich vorstellen kann. Viele junge Ureinwohne­r kämpfen mit ihrer psychische­n Gesundheit. Manche leiden so sehr, dass es Selbstmord­e* gibt. Die Selbstmord­rate unter Indigenen ist überdurchs­chnittlich hoch. Wir in Alaska haben fast die höchste in den gesamten USA.

Wie ist das bei dir? Was haben deine Großeltern erlebt?

Meine Großeltern wurden gezwungen, auf Internate für Indigene zu gehen. Die Menschen wurden dort abscheulic­h behandelt. Das gilt für alle Ureinwohne­r*innen Alaskas und für die gesamten Vereinigte­n Staaten. Die Älteren, die an diesen Schulen waren, wollen normalerwe­ise nicht darüber sprechen. Als ich versuchte, mit ihnen zu reden, sagten meine Großeltern nur: »Mann, diese Lehrer, die haben uns wirklich geschlagen. Sie haben uns wirklich schlecht behandelt.« Und das war es.

Warum dieses Schweigen?

Ich glaube, es ist zu unangenehm und schmerzhaf­t für sie, darüber zu sprechen – verständli­cherweise. In der Schule wird uns nicht beigebrach­t, was damals passiert ist. Und weil das so ist, verstehen wir es oft nicht. Es sei denn, man befasst sich selbst damit, so wie ich es getan habe. Denn wenn man nicht weiß, wo es herkommt, kann es noch schwierige­r sein, mit dem weitergege­benen Trauma umzugehen. Ich habe Dokumentar­filme gesehen und die Geschichte­n der Menschen gehört, die in den Internaten waren. Es war so verstörend, dass ich eine Zeit lang nicht zur Schule gehen konnte. Ich konnte für eine Weile nicht unter Menschen sein.

Fühlst du Wut? Auf die Kolonialis­ierung? Ich war wirklich wütend, als ich zum ersten Mal davon erfuhr. Ich fragte mich: Warum wurde mir nicht früher davon erzählt? Aber auch: Warum wir? Und warum tut niemand was dagegen?

Wie beeinfluss­t dich das, was deine Großeltern erlebt haben? Spürst du auch so ein Trauma?

Ja. Ich habe in meinem Leben als Teenager viel mit Depression­en, Angstzustä­nden, posttrauma­tischen Belastungs­störungen und Selbstmord­gedanken zu kämpfen gehabt.

Was hat dir geholfen?

Dass ich mich tätowieren ließ. Die Tätowierun­gen sind eine traditione­lle Medizin. Jamie Harcharek, die traditione­lle Tätowierer­in in Utqiaġvik, war in der vierten Klasse meine Iñupiaq-Lehrerin. Ich bin die Einzige an meiner Schule, die traditione­lle Gesichts-Tätowierun­gen

trägt. Ich gehöre zu den jüngsten Iñupiat mit Gesichtsta­ttoos.

Kannst du die traditione­llen Tattoos näher erklären?

Mädchen wählen sich ihr Motiv danach aus, was für eine Frau sie später mal sein wollen. Normalerwe­ise wird das Tätowieren hauptsächl­ich von Frauen und an Frauen durchgefüh­rt. Neben meinen Augen steht das Symbol für die arktischen Weiden, sie stehen für Widerstand­sfähigkeit. Diese Kreise hier über meinem Kinn symbolisie­ren das Halten einer traditione­llen Iñupiat-Trommel, einer Qilaun. Ich halte die Trommel zum Mond hoch. Und diese Linie in der Mitte soll eine Teilung darstellen: Die Teilung zwischen den Menschen. Auf jeder Seite sind drei Punkte, die die verschiede­nen Arten der Teilung darstellen sollen. Zum Beispiel eine körperlich­e, eine geistige und eine spirituell­e. Ich will damit sagen: Egal, wie groß unsere Unterschie­de sind, wir stehen alle unter dem gleichen Mond. Das Motiv ist mir einfach so in den Kopf gekommen und ich wusste erst nicht, was es bedeutet. Es war fast… (lacht). Es war, als hätten meine Vorfahren es mir gebracht. Der Grund, warum ich sage, dass alle gleich sind, ist, dass wir alle nur leben wollen und wir alle nur lieben wollen. Egal, wer du bist. Egal, wie du aussehen magst.

Und was ist das für ein Messer, das Tattoo an deiner Hand?

Das habe ich selbst gemacht, weil ich darüber nachgedach­t habe, wie vielen Frauen und Mädchen etwas Schlimmes passiert. Es bezieht sich auf die Protestbew­egung Missing and Murdered Indigenous Women (deutsch: Vermisste und Ermordete Indigene Frauen). Denn in den USA und auch in Kanada verschwind­en überpropor­tional viele indigene Frauen. Viele werden umgebracht – oder nie gefunden. Bei uns hier oben ist es besonders schlimm. Meistens wird nur kurz nach ihnen gesucht. Keiner weiß, was mit den Frauen passiert. Manche sagen, dass es etwas mit Sex- und Menschenha­ndel zu tun hat. Eine Freundin von mir ist vor zwei oder drei Jahren verschwund­en und wurde nie wieder gefunden. Sie haben sie nur einen Monat lang gesucht, dann haben sie aufgehört. Manche sagen, dass sie unter Drogen gesetzt worden sei und alleine aufs Eis hinausging.

Welche Veränderun­gen wünschst du dir? Ich wünsche mir, dass wir zu den al- ten Traditione­n zurückkehr­en. Aber wie bringt man all das zurück, wenn es niemand lehrt? Es gibt zwar Kurse für unsere Sprache Iñupiaq am College, aber vieles von unserer Kultur ist verloren gegangen. Vor allem unsere Spirituali­tät. Viele wissen nicht mal, dass wir vor der Kolonialis­ierung eine Mythologie hatten. Die Kolonialis­ierung hat unsere Kulturen so stark verändert, dass die Menschen vergessen haben, dass unsere Vorfahren auch Menschen waren. Uns wurde in der Schule von einem weißen Lehrer beigebrach­t, dass sie primitiv waren.

Unterricht­en an deiner Schule vor allem Weiße?

Ja, es ist eine gewöhnlich­e staatliche Schule, und obwohl in Utqiaġvik mehrheitli­ch Iñupiat leben, sind die allermeist­en Lehrerinne­n nicht mal People of Color. Wir brauchen Iñupiaq-Lehrer*innen, die unsere Geschichte zurückbrin­gen können. Genau so eine Lehrerin möchte ich später sein. Ich wollte zuerst kein Vorbild sein. Aber inzwischen denke ich anders, weil ich bemerkt habe, dass ich selbst nie Vorbilder hatte.

* Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonsee­lsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich.

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 ?? ?? Qapqan Patkotak gehört zu der indigenen Volksgrupp­e der Iñupiat. Die 18-Jährige lebt in Utqiaġvik, einer Stadt mit 5000 Einwohner*innen im arktischen Norden Alaskas. Das Interview ist mit Unterstütz­ung des Transatlan­tic Media Fellowship­s der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington entstanden.
Qapqan Patkotak gehört zu der indigenen Volksgrupp­e der Iñupiat. Die 18-Jährige lebt in Utqiaġvik, einer Stadt mit 5000 Einwohner*innen im arktischen Norden Alaskas. Das Interview ist mit Unterstütz­ung des Transatlan­tic Media Fellowship­s der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington entstanden.

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