nd.DieWoche

»Putins Strategie ist aufgegange­n«

Der ukrainisch­e Soziologe Volodymyr Ishchenko über Krieg, Klassenver­hältnisse und Nationalis­mus

- INTERVIEW: RAÚL ZELIK

Herr Ishchenko, der Krieg in der Ukraine wird meist besprochen als ein Konflikt zwischen zwei Staaten oder Nationen, beide vertreten durch ihre Regierunge­n. Sie hingegen sagen: Will man den Krieg verstehen, muss man über Klassenver­hältnisse sprechen. Warum?

Weil dieser Krieg meiner Ansicht nach Folge eines Klassenkon­flikts ist, der den gesamten postsowjet­ischen Raum durchzieht. In den meisten postsowjet­ischen Ländern bildete sich ab 1991 eine spezifisch­e Kapitalfra­ktion als herrschend­e Klasse heraus. Manche Sozialwiss­enschaftle­r sprechen in diesem Zusammenha­ng von »politische­n Kapitalist­en« …

Was verstehen Sie darunter?

Eine Gruppierun­g, die ihr Kapital akkumulier­t durch die Kontrolle des Staates. Sie plündert den Staat aus und verfügt über die Einnahmen aus Rohstoffex­porten. Der wichtigste Wettbewerb­svorteil dieser Kapitalfra­ktion besteht im Zugriff auf selektive staatliche­n Leistungen. Die »politische­n Kapitalist­en« würden gern Teil der globalen Eliten werden. Zugleich jedoch ist die nationale Souveränit­ät für sie von zentraler Bedeutung: Sie benötigen das Machtmonop­ol, ein Territoriu­m ausplünder­n zu können. In dieser Hinsicht stehen sie im Widerspruc­h zum transnatio­nalen Kapital, das ein anderes Akkumulati­onsmodell hat.

Wo liegt der Widerspruc­h?

Die »politische­n Kapitalist­en« brauchen den geschlosse­nen Raum, in dem sie privilegie­rten Zugang zur Staatsmach­t haben. Die transnatio­nalen Eliten hingegen brauchen die Öffnung. Aus diesem Gegensatz erklärt sich, warum die Korruption­sbekämpfun­g ein so zentrales Thema der postsowjet­ischen Politik ist. Anti-Korruption­s-Gesetze entziehen den »politische­n Kapitalist­en« nämlich ihre Grundlage und nutzen dem transnatio­nalen Kapital. Dessen Interessen decken sich im postsowjet­ischen Raum häufig mit den Interessen der gut ausgebilde­ten Mittelklas­sen. Sie wollen die Integratio­n in den Westen.

Auf wessen Seite schlägt sich dabei das Regime von Wladimir Putin?

Putins Regime ist, wie es Marxist*innen ausdrücken, »bonapartis­tisch« – oder wie es bei Gramsci heißt: »cäsaristis­ch« – also ein autoritäre­s, führerzent­riertes Regime. Es ist keine ideale Form der politische­n Organisati­on von Klassenher­rschaft. Der Bonapartis­mus ist sehr anfällig für Nachfolgek­ämpfe. Deshalb gab es auch so viele postsowjet­ische Revolution­en: nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Armenien, Belarus und – unmittelba­r vor der russischen Invasion in der Ukraine – auch in Kasachstan. Ich würde sagen, das Putin-Regime hat mit dem Krieg die Interessen der politischk­apitalisti­schen Klasse Russlands nach innen und außen gefestigt.

Und auf der ukrainisch­en Seite? Die politisch-kapitalist­ische Klasse, von der Sie sprechen, gibt es ja auch dort. Lange Zeit hatte man den Eindruck, dass sie identische Interessen wie die russischen Eliten verfolgt.

Der Unterschie­d ist, dass die ukrainisch­en Eliten immer sehr fragmentie­rt waren und häufig rein individuel­le Interessen verfolgten. »Bonapartis­tische« Kandidaten wie Viktor Janukowits­ch, die allgemeine Klassenint­eressen hätten organisier­en können, wurden sabotiert. Durch die Proteste des Euromaidan 2014 und die Invasion der Ukraine haben die politische­n Kapitalist­en der Ukraine massiv an Einfluss verloren. Profitiert davon haben das transnatio­nale Kapital und die Mittelklas­sen – ganz anders als in Russland.

Zu Beginn des Krieges gab es die Hoffnung, in Russland könne angesichts der russischen Verluste eine innere Opposition entstehen. Inzwischen aber scheint sich die Gesellscha­ft mit der Situation arrangiert zu haben.

Es wird oft nicht verstanden, wie apolitisch die postsowjet­ischen Gesellscha­ften sind. In Russland beruhte die Unterstütz­ung für den Krieg zunächst auf dem Gefühl, das Leben könne ganz normal weitergehe­n. Deshalb hat sich Putin auch erst nach den Niederlage­n bei Charkow im September 2022 zu einer Mobilmachu­ng entschiede­n.

Aber die Niederlage­n haben auch nicht zu einem tiefgreife­nden Stimmungsw­andel geführt.

Es gibt im Augenblick gibt es zwei gegensätzl­iche Prozesse: Auf der einen Seite profitiere­n Teile der Gesellscha­ft vom Krieg. Die Reallöhne steigen, weil es eine große Nachfrage nach Arbeitskrä­ften gibt. Einheimisc­he Unternehme­r konnten ihre Absatzmärk­te nach dem Rückzug westlicher Konzerne erweitern. Die loyalen Mittelschi­chten, die ihr Einkommen vom Staat beziehen, sind gewachsen. Anderersei­ts gibt es diejenigen, die von der Mobilmachu­ng betroffen sind, und eine wachsende Zahl von Gefallenen. Die russische Wirtschaft leidet unter einem enormen Arbeitskrä­ftemangel. Bei Teilen der Bevölkerun­g wächst das Einkommen nicht mit den steigenden Preisen mit. Die entscheide­nde Frage scheint mir jedoch, ob es Brüche in den Eliten gibt. Und da lässt sich festhalten: Auch wenn einige russische Oligarchen Teile ihres Vermögens im Westen verloren haben, sind die Reichen insgesamt doch noch reicher geworden. Es ist kein Zufall, dass Putin den Aufstand der Wagner-Gruppe relativ problemlos überstande­n hat. Ich würde sagen, seine Strategie zur Konsolidie­rung des Regimes durch den Krieg ist weitgehend aufgegange­n.

Ist Russland damit auf dem Weg zum Faschismus? Autoritär-nationalis­tisch ist das System Putin ja zweifelsoh­ne. Aber Sie betonen, dass man die Bedeutung der Ideologie in den postsowjet­ischen Staaten nicht überschätz­en sollte.

Die Rolle der Ideologie ist heute sicher größer als vor dem Krieg. Sowohl die Eliten als auch die Intelligen­zija sieht einen Bedarf an Legitimati­on. Aber der Begriff Faschismus scheint mir trotzdem weiterhin falsch zu sein. Denn Faschismus braucht immer auch eine straff organisier­te Zivilgesel­lschaft, die als Bindeglied zwischen Staat und den einfachen Leuten fungiert. Die postsowjet­ischen Gesellscha­ften hingegen sind atomisiert, in der Zivilgesel­lschaft sind nur sehr wenige Menschen organisier­t. Deshalb scheint mir der Begriff »bonapartis­tisch« treffender. Es handelt sich um ein autoritäre­s, führerzent­riertes Regime mit nationalis­tischer Rhetorik. Ein Vergleich mit dem militarist­ischen Preußen unter Bismarck ist – zumindest heute – wahrschein­lich erhellende­r als der Vergleich mit Hitlers Drittem Reich.

Wie sieht das auf der ukrainisch­en Seite aus? Welche ökonomisch­en Interessen werden hier formuliert?

Anders als in Russland haben in der Ukraine seit dem Euromaidan 2014 die profession­ellen Mittelklas­sen und das transnatio­nale Kapital ihre Macht stark ausgebaut. Ihr Interesse ist es, das Land als untergeord­nete Peripherie in den westlichen Kern-Kapitalism­us zu integriere­n. Der ethnisch-ukrainisch­e Nationalis­mus ist nicht viel mehr als ein Instrument, um sich eine Nische in den globalen Eliten und globalen Mittelklas­sen zu schaffen. Außerdem sorgt er dafür, die subalterne­n Klassen in Schach zu halten.

Die Euromaidan-Revolution bedeutete also keinen Bruch zwischen einem prowestlic­hen und einem prorussisc­hen Flügel der Oligarchie?

Wie gesagt: Die ukrainisch­en Eliten waren unfähig, selbst eine stabile Form der Klassenher­rschaft zu etablieren. Der sogenannte

In Ihrem neuen Buch blicken Sie sehr kritisch auf die Maidan-Revolution. Stehen Sie damit alleine?

Nein. Vor der Invasion äußerten sich bei allen Umfragen nur noch etwa 40 Prozent der Ukrainer*innen positiv über den Euromaidan – und diese Umfragen fanden im separatist­isch kontrollie­rten Osten des Donezk-Beckens und auf der Krim, wo die Ablehnung am stärksten war, gar nicht statt. Die Zustimmung für den Aufstand war seit 2014 also deutlich zurückgega­ngen. Seit Beginn der russischen Invasion sind Umfragen ziemlich unzuverläs­sig geworden – wie das unter Kriegsbedi­ngungen fast immer der Fall ist. Einer der Gründe hierfür ist, dass man alles ablehnt, das als »antiukrain­isch« interpreti­ert werden könnte. Das betrifft auch die wirtschaft­lichen Umstände und Fakten. Beispielsw­eise haben in Umfragen die Menschen die wirtschaft­liche Lage Ende 2022 viel besser bewertet als vor der Invasion, obwohl die Indikatore­n etwas komplett Anderes besagen.

Wie könnte der Krieg enden? Ist eine Verhandlun­gslösung denkbar?

Die meisten Beobachter*innen gehen davon aus, dass es am Ende zu einer Verhandlun­gslösung kommen wird. Und es gibt auch immer wieder Berichte über Kontakte. Wie diese Lösung aussehen könnte, hängt nur von den Kräfteverh­ältnissen auf dem Schlachtfe­ld ab. Ob ein Teil der Ukraine russisch wird oder nicht, ob man im Westen eingebunde­n wird oder neutral bleibt – das alles wird nicht durch Volksbefra­gungen oder politische­s Abwägen, sondern mit Gewalt auf dem Schlachtfe­ld entschiede­n. Je nach militärisc­hem Ausgang wird die Verhandlun­gslösung dann so oder so aussehen.

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Unter Beschuss: Straßensze­ne im Zentrum von Odessa am 7. Februar 2024

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