Leben im Ausnahmezustand
Jeden Monat veröffentlicht das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte Informationen zu den zivilen Kriegsopfern in der Ukraine. Seit einem Jahr schwankt die Zahl der in einem Monat Getöteten zwischen 204 und 111. Insgesamt starben seit Kriegsbeginn 10 378 Zivilist*innen, darunter waren 579 Kinder. Millionen Frauen, Kinder und Männer sind seit dem russischen Angriff vor dem Krieg ins Ausland geflohen.
Die allermeisten Menschen sind in der Ukraine geblieben, freiwillig oder notgedrungen, und leben seit nunmehr fast zwei Jahren in einem Land, das sich im Kriegszustand befindet. Sie brauchen Geld zum Wohnen und Essen, haben einen Job, sind arbeitslos oder in Rente. Wie ist ihre wirtschaftliche und soziale Situation? Wir haben Daten dazu zusammengestellt und Ivo Georgiev gebeten, die Lage der Menschen zu schildern. Der Büroleiter Ukraine der Rosa-Luxemburg-Stiftung berichtet auch über die Folgen von Gesetzesänderungen, die Unternehmen praktisch alle Freiheiten geben, um Betriebe zu retten. Wie Menschen selbst ihre finanzielle Situation beschreiben, erklärten sie in einer Befragung im Auftrag der Weltbank, die von April bis Juni 2023 stattfand. Umfrageergebnisse sind in Kriegszeiten noch vorsichtiger zu betrachten als in Friedenszeiten, gerade wenn es um politische Statements geht. Doch hier wurden den Menschen konkrete Fragen zu ihrer persönlichen Situation gestellt, die Hinweise auf ihren Alltag geben können. Wir veröffentlichen einige Ergebnisse. Eine große Mehrheit erklärte beispielsweise, dass ihre finanzielle Situation schlechter sei als vor dem Krieg. Sieben Prozent sagten hingegen, ihr Lebensstandard habe sich verbessert. Auch der Krieg macht nicht alle gleich.
Texte: Eva Roth, Daniel Säwert
Zum Jahresende 2023 konnte die ukrainische Führung gute Nachrichten verkünden. Die Wirtschaft des Landes hat sich im zweiten Kriegsjahr stabilisiert, Unternehmen suchen wieder verstärkt nach Mitarbeitenden. Dementsprechend bezifferte die Nationalbank die Zahl der Menschen ohne Arbeit im Dezember auf 96100, nur halb so viele wie im Vorjahr und weit weniger als 2020, als 459 000 Ukrainer*innen nach offiziellen Angaben Arbeit suchten. Die Jubelzahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die offiziellen Daten spiegelten nicht die wahre Situation wider, meint Danylo Hetmanzew, der im Finanzausschuss des ukrainischen Parlamentes sitzt. Würde man nach den Methoden der Internationalen Arbeitsorganisation rechnen, wäre die Zahl sehr viel höher, so der Abgeordnete. Schätzungen gehen von bis zu 125 000 Arbeitslosen aus. Das liegt vor allem an der Mobilisierung im Land. Aus Angst, bei der Arbeit für den Fronteinsatz eingezogen zu werden, verstecken sich viele Männer in ihren Wohnungen. Ein weiterer Grund für die niedrigen Zahlen ist die »Aufbauarmee«, mit der die Regierung die Kriegsschäden im Land beseitigen will. Zuletzt umfasste diese mit 14 Millionen Euro finanzierte »Armee« knapp 88 000 Menschen und damit fast die 50 Prozent weniger Arbeitslosen als 2022.