Gswirtschaft
Ands. Durch neoliberale Reformen wurden zudem der Regierung ein Umdenken an
lich dem effizienten Ausbau der Kriegswirtschaft im Wege, statt sie zu fördern.
Auf diesen Widerspruch haben ukrainische linke Aktivistinnen und Gewerkschafter hingewiesen und ihre Stimme erhoben. Natalia Lomonosowa, Soziologin beim ukrainischen Institut Cedos, forderte Ende 2022 eine gerechte Sozialpolitik als Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft im Angesicht dieses Angriffskrieges und für den Wiederaufbau des zerstörten Landes. Witalij Dudin, Mitglied der linken NGO SozRuch (Soziale Bewegung), forderte eine aktivere Rolle des Staates und den Ausbau der Sozialstaatlichkeit, eine Umverteilung des Wohlstandes zugunsten der finanziell Schwachen sowie staatlich geförderte Beschäftigungsprogramme und Einbeziehung der Gewerkschaften bei der Umwandlung der Wirtschaft. Diese Stimmen klingen mittlerweile nicht mehr so abwegig in der ukrainischen Öffentlichkeit.
Neue Töne in der Wirtschaftspolitik
Bei der zweiten Konferenz für den Wiederaufbau der Ukraine im Jahr 2023 in London war ein Umdenken in der neoliberalen Doktrin deutlich zu spüren. Mit Ernüchterung stellte der ukrainische Finanzminister fest, dass das Land eine Investitionspolitik braucht, die die Bedarfe der Kriegswirtschaft in den Vordergrund stellt und eine staatliche Regulierung erforderlich macht. Um die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken, sollen die nationalen Industrien priorisiert und im internationalen Wettbewerb geschützt werden.
Damit verabschiede sich die Ukraine leise vom Neoliberalismus, meint der britische Experte Luke Cooper. Er kommt zu dem Schluss, dass Pläne für die Einführung einer einheitlichen Steuer für alle Unternehmer (Flat Tax) offenbar vom Tisch sind. Stattdessen gewinnen in der Regierung Überlegungen zu einer progressiven Besteuerung an Bedeutung, die soziale Ungleichheiten abbauen soll.
Hoffnung gibt die neue Rhetorik des ukrainischen Wirtschaftsministeriums, das die Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ernst nimmt und die Steigerung der Einkommen und des Wohlstandes einer Mehrheit der Bevölkerung als Bedingung für das Wirtschaftswachstum in Kriegszeiten sieht. Neu ist auch das Versprechen, die ungleiche Bezahlung der Frauen auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt zu bekämpfen.
Viele Frauen ersetzen die an der Front kämpfenden Männer in den Minen und Industriebetrieben, auch in der Armee melden sich viele Frauen zum Dienst. Derzeit erhalten Frauen in der Ukraine durchschnittlich etwa 19 Prozent weniger Lohn als ihre männlichen Arbeitskollegen. Diesen Gender-Pay-Gap zu schließen, gehört jetzt auch zu den erklärten Zielen der ukrainischen Regierung.
Auch die Arbeitsmöglichkeiten für Kriegsversehrte und Menschen mit Behinderungen sollen staatlich gefördert werden. Von diesen Veränderungen wird der Erfolg beim Wiederaufbau des Landes abhängen, erklärte die stellvertretende Wirtschaftsministerin Tetjana Bereschna im Dezember vergangenen Jahres.
Die Ukraine ist auf unabsehbare Zeit massiv auf ausländische Hilfen angewiesen. Der in Aussicht gestellte EU-Beitritt des Landes bringt zwar Hoffnungen in die ukrainische Gesellschaft, ändert jedoch an dieser extremen Abhängigkeit zunächst wenig. Das Leben der Menschen wird künftig also auch davon abhängen, welche politischen Veränderungen Gläubiger wie der Internationale
Millionen Menschen sind seit Kriegsbeginn 2022 aus der Ukraine geflohen und lebten zuletzt noch im Ausland. In dieser Schätzung des UN-Flüchtlingskommissariats sind also jene Menschen nicht berücksichtigt, die inzwischen wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind. Im vorigen Jahr lebten die meisten Geflüchteten in Russland (1 212 600), Deutschland (1 125 900), Polen (956600) und Tschechien (375600). Die Zahl der Binnenflüchtlinge schätzen die Vereinten Nationen aktuell auf 3,7 Millionen Frauen, Männer und Kinder.
Währungsfonds (IWF) und die EU-Staaten verlangen.
Die Situation der Linken
Die ukrainische Gesellschaft war bereits vor der russischen Invasion und auch vor der Krim-Annexion 2014 von tiefen inneren Widersprüchen und politischen Polarisierungen geprägt. Die linken Kräfte waren gespalten und nicht in der Lage, eine parteipolitische Vertretung zu gründen und linke Politik wirksam zu betreiben.
Nach dem 24. Februar 2022 sind diese ideologischen Hindernisse anscheinend in den Hintergrund geraten. Auch die linken Bewegungen in der Ukraine setzen sich für die Verteidigung ihres Landes ein und lehnen die Okkupation ukrainischer Gebiete durch Russland kategorisch ab. Im gemeinsamen Kampf gegen den militärisch überlegenen Aggressor sehen sie eine Chance, nach dem Krieg gestärkt und weniger zerstritten aufzutreten und beim Wiederaufbau des Landes eine bedeutendere Rolle zu spielen. Für sie steht die Frage der Solidarität, sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft als auch die internationale Solidarität gegen den imperialistischen Überfall Russlands auf ihr Land, im Vordergrund ihrer Aktivitäten.
Ein Ende des russischen Überfalls ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass es wieder öffentliche politische Auseinandersetzungen in dem Land gibt. Es ist daher wichtig, dass die ukrainischen Linken diesen Krieg überleben – individuell und kollektiv – und ihre Identität, ihre Präsenz in den anstehenden politischen Debatten, ihre Wahrnehmbarkeit und ihre Forderungen aufrechterhalten.
Ivo Georgiev ist Büroleiter Ukraine der Rosa-Luxemburg-Stiftung.