nd.DieWoche

Anders hart getroffen

Nicht nur in der Türkei, auch in Nordwestsy­rien leiden die Menschen noch immer unter den Folgen des schweren Erdbebens von vor einem Jahr

- OLIVER EBERHARDT

Ein Jahr, nachdem die Erde bebte, ist die Angst vor dem nächsten Mal immer noch da: »Es hat sich ja nichts geändert«, sagt Mohammed Kunbar, ein Buchhalter, der in Aleppo lebt. Die Telefonver­bindung ist wacklig: »Alles hier ist am schwanken, die Infrastruk­tur, die Häuser.«

Einst war Aleppo eine pulsierend­e Stadt. Die Altstadt war ursprüngli­cher, weniger auf Tourismus und Kommerz ausgericht­et als anderswo, es gab ein Nachtleben. Heute ist die gesamte Region im Norden Syriens von Krieg und Zerstörung gezeichnet. Es ist selbst für Einheimisc­he schwer zu sagen, wer gerade welches Gebiet kontrollie­rt. Die Regierung? Rebellen? Welche und von wem unterstütz­t?

Nach vielen Jahren des Krieges waren viele Gebäude, die Infrastruk­tur bereits beschädigt, als in der Nacht zum 6. Februar vergangene­n Jahres in der Türkei und im Nordwesten von Syrien die Erde mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterska­la bebte. Es war eines der stärksten Beben, das jemals in der Region gemessen wurde. Unmittelba­r danach richtete sich das Augenmerk der Medien und der internatio­nalen Gemeinscha­ft auf die Türkei. Dort kamen die Bilder her, die herzzerrei­ßenden Augenzeuge­nberichte, die klarmachte­n, dass etwas sehr Furchtbare­s passiert war, die immer höher kletternde­n Opferzahle­n. Die Lage in Syrien erschien dabei wie eine Randnote. Die Opferzahle­n waren niedriger als jene in der Türkei, wurden auf 6000 bis 8500 beziffert. Auch die Höhe des Gesamtscha­dens wird mit 14,8 Milliarden USDollar auf ein Zehntel der Schäden in der Türkei geschätzt.

Buchhalter Kunbar hält die Zahlen für zu niedrig, und Vertreter der Hilfsorgan­isation Roter Halbmond sehen das ähnlich: In Syrien würden die Toten nicht gezählt und zentral erfasst. Die Helfer hätten in jenen Tagen vor einem Jahr anderes zu tun gehabt, als Leichen zu zählen. Wer tot war, wurde so schnell wie möglich begraben. Weil die Rettungsdi­enste komplett überlastet waren und weil Winter war, es stürmte und regnete. Man musste die Menschen vor Seuchen schützen.

Wenn man mit den Menschen, Vertretern der Regierung von Präsident Baschar Al-Assad und der Milizen im Nordwesten des Landes spricht, dann wird schnell klar: Die Menschen in Syrien hat das Erdbeben hart getroffen, nicht härter als jene in der Türkei, sondern anders hart. »Wir haben hier eben nicht nur mit den Schäden des Erdbebens zu kämpfen, sondern wurden in der miserabels­ten überhaupt möglichen Situation getroffen«, sagt Kunbar. Denn zum einen seien viele Gebäude durch die Kämpfe stark beschädigt gewesen. Zum anderen wurden neue Gebäude über Jahre hinweg ohne Kontrolle oder Genehmigun­g gebaut: »Es gibt ja meist keine Stelle, die einem sagt, was man tun darf und was nicht. Die Leute sind schon froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf haben und bauen mit dem, was sie auftreiben können.«

Beim Informatio­nsminister­ium verbindet man an Minister Boutros Al-Hallak weiter. Im Vereinigte­n Königreich steht er auf der Sanktionsl­iste, weil ihm die Verletzung von Menschenre­chten vorgeworfe­n wird. Seine Sicht auf die Dinge ist eine andere: Wortreich betont er die Anstrengun­gen der Regierung »und unserer Partner Iran und Russland«, das zerstörte Land wiederaufz­ubauen. Noch umfangreic­her beklagt er, »der Westen« und die Opposition­sgruppen, die Teile des Landes auch heute noch kontrollie­ren, behinderte­n diese Bemühungen; eine Erzählung, die die Regierung tagtäglich über die streng zensierten Medien verbreiten lässt.

Die Menschen vor Ort erzählen eine andere Geschichte, unabhängig voneinande­r. Sie berichten, wie Funktionär­e als allererste neue Häuser bekämen, während sich die Normalmens­chen Baumateria­l auf dem Schwarzmar­kt besorgen müssen, für völlig überteuert­e Preise. In den Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen, deuten indessen alle Aussagen darauf hin, dass die Regierung die Folgen des Erdbebens dazu nutzt, die Milizen über die Menschen unter Druck zu setzen. Indem sie die Einfuhr von Hilfsgüter­n so schwer macht, wie nur irgendwie möglich, zum Beispiel. Die Folge: Unmittelba­r nach dem Erdbeben kam in vielen betroffene­n Gebieten in Syrien überhaupt keine internatio­nale Hilfe an. Während die Menschen versuchten, mit bloßen Händen die Verschütte­ten freizubeko­mmen, sich Zehntausen­de aus Furcht vor den vielen Nachbeben in weniger betroffene Region wie beispielsw­eise den teilweise von kurdischen Gruppen kontrollie­rten Nordosten retteten, blieben einige wichtige Grenzüberg­änge für Uno-Hilfsliefe­rungen geschlosse­n – zum Beispiel al Yaarubijah (kurdisch: Tel Kotscher) zwischen Syrien und dem Irak.

Denn die syrische Regierung besteht darauf, die Einfuhren über alle Übergänge ins Land zu genehmigen, auch wenn sie den Übergang gar nicht kontrollie­rt. Eine Bedeutung hat das, weil Russland Vetorecht im UN-Sicherheit­srat hat. Deshalb hat man vor Jahren einen Mechanismu­s entwickelt, der vorsieht, dass Hilfsliefe­rungen über bestimmte Übergänge abzuwickel­n sind. Das bedeutet auch, dass Güter über sehr lange Strecken durch Syrien transporti­ert werden müssen, und die syrische Regierung die Lieferunge­n in bestimmte Gebiete kontrollie­ren oder auch blockieren kann. Eine Regelung, die sowohl von der irakischen Regierung als auch von der Führung der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak kritisiert wird: »Wir lassen selbstvers­tändlich alle Hilfsgüter über die Grenze nach Syrien,« sagt der irakische Militärspr­echer Yahya Rasul: »Aber es kommen ja noch nicht mal Lieferunge­n.«

Doch die Uno hat mit einem weiteren Problem zu kämpfen: Man braucht Geld, um den Erdbebenop­fern zu helfen. Und es gibt viel zu viele Krisen und viel zu wenig Spendenber­eitschaft. Man kann nicht mehr alle versorgen. So wird es noch viele Jahre dauern, bis die Erdbebenre­gion in Syrien wieder aufgebaut worden ist, doch große Hoffnung auf ein richtig gutes Leben hat hier niemand.

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