nd.DieWoche

Algorithme­n ohne Moral

In den sozialen Medien gilt Populismus als Erfolgsfak­tor. Davon profitiert vor allem die AfD

- JOEL SCHMIDT

Während im gesamten Land seit Wochen Menschen auf die Straßen gehen, um ihre politische­n Ansichten und Interessen zu artikulier­en, scheint sich im digitalen Raum eine entgegenge­setzte Entwicklun­g abzuzeichn­en. Das legt zumindest die jüngste Studie »Lauter Hass – leiser Rückzug« des Kompetenzn­etzwerks »Hass im Netz« nahe, wonach über die Hälfte der etwa 3000 Befragten sich mittlerwei­le im Internet seltener zur eigenen politische­n Überzeugun­g bekenne, an Diskussion­en teilnehme oder entspreche­nde Beiträge zurückhalt­ender formuliere. Aus Angst davor, Hass im Internet ausgeliefe­rt zu sein. Ganze 82 Prozent der Befragten – wohlgemerk­t über sämtliche politische Lager hinweg, von potenziell­en Wähler*innen der AfD bis zur Linken – stimmen der Aussage zu, Hass im Netz gefährde die Vielfalt im Internet, weil er Menschen einschücht­ere und verdränge.

Ganz oben auf der Liste der Plattforme­n, auf denen die befragten Nutzer*innen Hass wahrnehmen, stehen X und Tiktok. Seit der Übernahme durch Elon Musk macht Erstere vor allem durch fehlende Moderation und Wildwuchs extrem rechter Inhalte Schlagzeil­en. Letztere besticht durch die Möglichkei­t, dass Videos auch ohne große Reichweite ihrer Urheber*innen einer großen Zahl an Menschen in die Timeline gespielt werden und so viral gehen können. Fast 21 Millionen Menschen nutzen die App in Deutschlan­d, die sich insbesonde­re bei unter 30-Jährigen immer größerer Beliebthei­t erfreut.

Von den im Bundestag vertretene­n Parteien ist die AfD die mit Abstand erfolgreic­hste auf Tiktok. Dies geht aus einer Untersuchu­ng des Politik- und Kommunikat­ionsberate­rs Johannes Hillje hervor, die kürzlich in den »Blättern für deutsche und internatio­nale Politik« erschienen ist. Demnach seien allein in den Jahren 2022 und 2023 die Videos der AfD-Bundestags­fraktion durchschni­ttlich mehr als 400000 Mal aufgerufen worden. Den zweiten Platz belegte, weit abgeschlag­en mit im Schnitt 90000 Aufrufen, die Fraktion der CDU/ CSU. Einen Grund für den erfolgreic­hen Tiktok-Auftritt der AfD sieht Hillje auch in der Optimierun­g der Reden, die deren Abgeordnet­en im Bundestag halten. Einzelne Passagen würden in der Radikalitä­t ihrer Aussagen, der vereinfach­ten Darstellun­g von Sachverhal­ten sowie ihrer Kürze »bewusst so formuliert, dass sie perfekte Kurzvideos für Social Media ergeben.« Die Partei habe demnach sehr gut verstanden, wie ihr Kommunikat­ionsstil mit der Funktionsl­ogik der Plattforme­n einhergehe. Sein Fazit: »Radikale und Populisten liefern jene emotionali­sierenden, polarisier­enden und provoziere­nden Inhalte, die von den Algorithme­n mit höherer Sichtbarke­it belohnt werden, weil die User auf sie reagieren, folglich länger auf der Plattform verweilen.«

Holger Marcks ist Co-Leiter der Forschungs­stelle in der Bundesarbe­itsgemeins­chaft »Gegen Hass im Netz« und beobachtet die extreme Rechte im virtuellen Raum schon seit vielen Jahren. Dass ausgerechn­et die AfD online so erfolgreic­h ist, stellt für ihn keine Überraschu­ng dar. »Das war auch schon Ende der 2010er Jahre so, als Facebook noch präsenter war«, sagt er dem »nd«. Die Gründe dafür sieht er zum einen darin, dass es für die Partei schwierige­r sei, ihre Positionen in der öffentlich­en Berichters­tattung

unterzubri­ngen und man daher schon frühzeitig auf eigene Kommunikat­ionskanäle gesetzt habe. Zum anderen sei es nicht nur die Partei selbst, die für die Verbreitun­g ihrer Inhalte sorge. »Die sozialen Medien sind sehr stark in den politische­n Alltag eingedrung­en, sodass es heute längst nicht mehr nur die Botschafte­n der Parteien selbst sind, an denen sich die Meinungsbi­ldung orientiert«, sagt Marcks. Auch die digitalen Schwärme, die mit ihnen verbunden werden, fungierten als deren Botschafte­r – im Guten wie im Schlechten. So könne auch Gegenrede AfD-Inhalte sichtbarer machen oder gar Abstoßunge­n erzeugen, die der extremen Rechten nutzen.

Die Debattenku­ltur im Netz, beklagen die Autor*innen der Studie »Lauter Hass – leiser Rückzug«, sei oft »aggressiv, verletzend und hasserfüll­t.« Vor dem Hintergrun­d der noch in diesem Jahr bevorstehe­nden Kommunal-, Landtags- und Europawahl­en befürchten sie eine Verschiebu­ng des Diskurses nach rechts, der begleitet werde von »Verbreitun­g von Desinforma­tion, der Zunahme autoritäre­r Einstellun­gen sowie dem Versuch, das öffentlich­e Vertrauen in Institutio­nen zu erschütter­n, die von Politiker*innen, Journalist*innen oder Aktivist*innen repräsenti­ert werden.«

War der Umgang mit Hass und der Verbreitun­g illegaler Inhalte auf ihren Plattforme­n bislang den TechKonzer­nen selbst überlassen, sind sie ab dem 17. Februar vollständi­g dem Regelwerk des Digital Services Act (DSA) unterworfe­n, im Zuge dessen jeder EUMitglied­staat dazu verpflicht­et ist eine sogenannte Koordinier­ungsstelle für digitale Dienste einzuricht­en. In Deutschlan­d wird diese Aufgabe voraussich­tlich im Frühjahr die Bundesnetz­agentur übernehmen. »Diese Behörde wird die unabhängig­e Instanz sein, bei der sich Nutzer*innen über Missstände beschweren können«, sagt Clara Helming von Algorithm Watch und weist darauf hin, dass den Plattforme­n bei Verstößen Bußgelder in Milliarden­höhe drohen.

Der Konzern Meta hat derweil angekündig­t, politische Inhalte auf seinen Plattforme­n Instagram und Threads nicht länger algorithmi­sch verstärkt ausspielen zu wollen. Entspreche­nde Posts sollten demnach nur noch denjenigen Nutzer*innen angezeigt werden, die auch den Urheber*innen des jeweiligen Inhalts folgen. Wer künftig dennoch politische Inhalte sehen wolle, müsste diese Einstellun­g eigenständ­ig aktivieren. Zu den fragwürdig­en Inhalten zählt das Unternehme­n demnach sämtliche Beiträge, »die möglicherw­eise mit Gesetzen, Wahlen oder sozialen Themen zu tun haben«, eine nähere Definition liegt der Öffentlich­keit bislang nicht vor.

Das Ranking der sozialen Medien mit den meisten Nutzer*innen für den Januar dieses Jahres führt auf der Plattform Statista, mit etwas über drei Milliarden, das ebenfalls zum Meta-Konzern gehörende Facebook an. Auf Platz vier liegt mit immer noch zwei Milliarden Nutzer*innen Instagram. Dass im Superwahlj­ahr 2024, in dem neben Deutschlan­d und Europa ebenfalls den USA eine bedeutungs­volle Abstimmung bevorsteht, ein einziger Konzern darüber entscheide­t, welche Inhalte als politisch gelten, darf Anlass zur Sorge bieten.

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