Charakter ist eine Zumutung
Eine kleine Galerie der politischen Typen – die mehr sind als das geläufige Vorurteil
Gesellschaftliche Krisen bringen verschiedenste Kulturen der Unzufriedenheit hervor, und mit jeder Verwirrnis drängen auch die Vereinfacher heran. Sie definieren, sie verteilen Etiketten, für sie ist alles eindeutig: jedem seinen Stempel, grob draufgeknallt. Aber noch die landläufigsten Typen der gegenwärtigen politischen Landschaft sind befragenswerter, als das jeweilige Vorurteil festlegt.
DER MITLÄUFER. Zum Beispiel. Er gerät, da jetzt verschärft Courage gefordert wird, besonders schnell ins Zwielicht. Er ist Produkt der arbeitsteiligen Gesellschaft: Er möchte nur so viel wissen, dass er nicht in die Lage kommt, mehr wissen zu müssen. Er hätte manchmal fast ein Argument auf der Zunge. Doch Zünglein an der Waage sein? Wenn er aufgefordert wird, eine Katastrophe zu verhindern, fragt er: Warum gerade ich? Wenn sie ihn trifft, fragt er: Warum gerade mich? Klar, wenn man sich von den Leuten unterscheiden will, muss man ein Charakter sein. So die Zumutung. Der Mitläufer indes hat ein wenig Angst vor sich selbst. Er will nicht Faust sein, nicht Che Guevara. Er reiht sich ein. Er steht seinen Mann, er liegt immer richtig. Mitunter, weil er vorher umgefallen ist.
Aber: Wer den Mitläufer nur geringschätzt, weiß wenig vom Menschen. Der die Ökologie bejaht und doch geblitzt werden muss. Der ein Herz für Tiere hat und Schnitzel mag. Kleines Bürgertum bleibt eine Form der Emanzipation: Mitläufer sind Sachwalter jener ausbalancierenden Trägheit, die eine Gesellschaft erst lebbar macht – weil durch sie Revolutionäre und Reaktionäre in der Mitte ausgebremst werden.
Manche Linke mögen die Mitte nicht. Als sei sie ein Gegensatz zur Arbeitnehmerschaft, die man so gern wieder Arbeiterklasse nennen würde. Aber Millionen flohen die bemoosten Theorieparks und Missionierungsstätten und richteten sich lieber in der Realität ein, auch wenn die rauer und unübersichtlicher wurde. Kürzlich war in einer Zeitung zu lesen, man müsse die derzeitigen Antinazi-Proteste auf den Straßen »nach links verschieben«. Proteste oder Personen? Leute sind keine Verschiebemasse, da hat sich schon mancher verhoben. Immer diese Dominanzsucht, dieser Tendenztrieb, dieser Frontenfuror.
Polemik gegen Mitläufer bleibt zum Teil ungerecht – weil sie Gefahr läuft, jede Anpassung a priori negativ zu beurteilen. Doch die ist Menschenrecht. Besonders der Schwachen! Die von Politik alles Regelbare verhandelt sehen möchten, aber unbedingt ohne jene Selbstherrlichkeit, die an erfolgreiche Bewusstseinsoperationen glaubt.
DER NICHTWÄHLER. Er gilt als Verderber einer Gesellschaft, die auf den mündigen Bürger setzt. Aber nicht jeder Nichtwähler ist ein Verräter der Parteiendemokratie, sondern: ihr letzter Getreuer. Er ist jener Schutzraumbedürftige, den Parteien mehr und mehr links oder rechts liegen lassen, weil sie mit Flexibilitätstraining beschäftigt sind. Um biegsam zu bleiben für jede Richtung, in der ein machtbeteiligtes Überleben möglich wäre.
Es droht der komplett frei flottierende Wählermarkt. Neue Vernetzungen, alles beliebig kombinierbar und schnell kündbar. Der Nichtwähler jedoch möchte nicht sprunghaft leben. Er ist nicht desinteressiert und tumb, sondern hängt mit beglückender Einseitigkeit an seiner »ehemaligen« Partei. Sentimentalität hält ihn vom
Wählen ab: Er macht die Rochaden beim politischen Schach(er) nicht mit. Er bleibt an Wahltagen zu Hause, weil er das Programm nicht aufgeben will, an das er glaubt. Wer die Wahl hat, hat die Qual? Vielleicht hat, wer nicht wählt, die weit größeren Qualen.
DER KONSERVATIVE. Für Linke ein Horror? Er kommt ohne den Grobianismus derer aus, die Unkultur für die erste Stufe eines Aufstandes halten. Er fürchtet diesen feurigen Verstand, der immer genau weiß, was Sache ist, wer Freund und Feind. Er sieht den Hauptfeind nicht, wie es der linke Kanon kaut und kaut, im eigenen Land, sondern unter der eigenen Haut. Der Konservative hat althergebrachte Vorstellungen, die etwas zu tun haben mit institutioneller Verlässlichkeit. Bevor er dafür plädiert, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, schaut er nach dem Wert des Baus, den die gefügten Steine bilden.
Er ruft nicht überlaut zum Kampfe auf. Weil er vom Mut, den andere haben sollen, erstmal wissen will, ob er ihn auch selbst hätte. Er kann Wutbürgerbriefe noch mit der Hand schreiben. Er wischt nicht bildungsarm über alles hinweg, was seinem Verstandeshorizont fremd bleibt. Er wiehert nicht, wenn das Wort »Gott« fällt. Er würde das Wort »Mensch« nie durch den Begriff des subjektiven Faktors ersetzen. Er ist von den Menschen vielfach enttäuscht, aber nie so sehr, dass er ein Feindbild hätte. Er ist eine Hoffnungsgestalt nicht nur nach den Revolutionen, sondern statt der Revolutionen.
SCHWARZE BLÖCKE. Unsere bunten Protestzüge sind ein taugliches Widerstandsmittel – dessen Gefälligkeit aber doch niemandem weh tut. Schwarze Blöcke dagegen sind ein untaugliches Widerstandsmittel – dessen Radikalität aber wenigstens jene, die gemeint sind, ein wenig zittern lässt. Schwarze Blöcke stehen für Schrei statt Diskurs. Aber sind diese steinebewehrten Blöcke nicht auch Abgesandte unseres Unbewussten? Das dort zürnen, toben will, wo Vernunft regel-mäßig zur Dämpfung ruft? Diese Blöcke als Ausdruck unserer heimlichen Sehnsucht nach Rauschzuständen des Aufbegehrens? Man möchte doch nicht nur immer der Stabilitätsnarr einer repräsentativen Demokratie sein, die an sich selbst verödet.
Auf der einen Seite also eine ohnmächtige Politik, der man aber keinen Hauch Erschütterung ansieht, auf der anderen Seite eine junge wilde Kraft, die zwar kein politisches Bewusstsein hat, aber unfähig ist, sich ins Bunte einzugemeinden. Doch halt, lassen wir diese unguten Gedanken nah am Schwarzen Block. Bleiben wir, um Himmelswillen, die wahren Demokraten. Setzen wir uns die (rot!) leuchtenden Pappnasen wieder auf. Protest kann so schön sein, und am schönsten ist es, wenn uns Olaf Scholz das bestätigt.
Protest kann so schön sein, und am schönsten ist es, wenn uns Olaf Scholz das bestätigt.