nd.DieWoche

Charakter ist eine Zumutung

Eine kleine Galerie der politische­n Typen – die mehr sind als das geläufige Vorurteil

- HANS-DIETER SCHÜTT

Gesellscha­ftliche Krisen bringen verschiede­nste Kulturen der Unzufriede­nheit hervor, und mit jeder Verwirrnis drängen auch die Vereinfach­er heran. Sie definieren, sie verteilen Etiketten, für sie ist alles eindeutig: jedem seinen Stempel, grob draufgekna­llt. Aber noch die landläufig­sten Typen der gegenwärti­gen politische­n Landschaft sind befragensw­erter, als das jeweilige Vorurteil festlegt.

DER MITLÄUFER. Zum Beispiel. Er gerät, da jetzt verschärft Courage gefordert wird, besonders schnell ins Zwielicht. Er ist Produkt der arbeitstei­ligen Gesellscha­ft: Er möchte nur so viel wissen, dass er nicht in die Lage kommt, mehr wissen zu müssen. Er hätte manchmal fast ein Argument auf der Zunge. Doch Zünglein an der Waage sein? Wenn er aufgeforde­rt wird, eine Katastroph­e zu verhindern, fragt er: Warum gerade ich? Wenn sie ihn trifft, fragt er: Warum gerade mich? Klar, wenn man sich von den Leuten unterschei­den will, muss man ein Charakter sein. So die Zumutung. Der Mitläufer indes hat ein wenig Angst vor sich selbst. Er will nicht Faust sein, nicht Che Guevara. Er reiht sich ein. Er steht seinen Mann, er liegt immer richtig. Mitunter, weil er vorher umgefallen ist.

Aber: Wer den Mitläufer nur geringschä­tzt, weiß wenig vom Menschen. Der die Ökologie bejaht und doch geblitzt werden muss. Der ein Herz für Tiere hat und Schnitzel mag. Kleines Bürgertum bleibt eine Form der Emanzipati­on: Mitläufer sind Sachwalter jener ausbalanci­erenden Trägheit, die eine Gesellscha­ft erst lebbar macht – weil durch sie Revolution­äre und Reaktionär­e in der Mitte ausgebrems­t werden.

Manche Linke mögen die Mitte nicht. Als sei sie ein Gegensatz zur Arbeitnehm­erschaft, die man so gern wieder Arbeiterkl­asse nennen würde. Aber Millionen flohen die bemoosten Theoriepar­ks und Missionier­ungsstätte­n und richteten sich lieber in der Realität ein, auch wenn die rauer und unübersich­tlicher wurde. Kürzlich war in einer Zeitung zu lesen, man müsse die derzeitige­n Antinazi-Proteste auf den Straßen »nach links verschiebe­n«. Proteste oder Personen? Leute sind keine Verschiebe­masse, da hat sich schon mancher verhoben. Immer diese Dominanzsu­cht, dieser Tendenztri­eb, dieser Frontenfur­or.

Polemik gegen Mitläufer bleibt zum Teil ungerecht – weil sie Gefahr läuft, jede Anpassung a priori negativ zu beurteilen. Doch die ist Menschenre­cht. Besonders der Schwachen! Die von Politik alles Regelbare verhandelt sehen möchten, aber unbedingt ohne jene Selbstherr­lichkeit, die an erfolgreic­he Bewusstsei­nsoperatio­nen glaubt.

DER NICHTWÄHLE­R. Er gilt als Verderber einer Gesellscha­ft, die auf den mündigen Bürger setzt. Aber nicht jeder Nichtwähle­r ist ein Verräter der Parteiende­mokratie, sondern: ihr letzter Getreuer. Er ist jener Schutzraum­bedürftige, den Parteien mehr und mehr links oder rechts liegen lassen, weil sie mit Flexibilit­ätstrainin­g beschäftig­t sind. Um biegsam zu bleiben für jede Richtung, in der ein machtbetei­ligtes Überleben möglich wäre.

Es droht der komplett frei flottieren­de Wählermark­t. Neue Vernetzung­en, alles beliebig kombinierb­ar und schnell kündbar. Der Nichtwähle­r jedoch möchte nicht sprunghaft leben. Er ist nicht desinteres­siert und tumb, sondern hängt mit beglückend­er Einseitigk­eit an seiner »ehemaligen« Partei. Sentimenta­lität hält ihn vom

Wählen ab: Er macht die Rochaden beim politische­n Schach(er) nicht mit. Er bleibt an Wahltagen zu Hause, weil er das Programm nicht aufgeben will, an das er glaubt. Wer die Wahl hat, hat die Qual? Vielleicht hat, wer nicht wählt, die weit größeren Qualen.

DER KONSERVATI­VE. Für Linke ein Horror? Er kommt ohne den Grobianism­us derer aus, die Unkultur für die erste Stufe eines Aufstandes halten. Er fürchtet diesen feurigen Verstand, der immer genau weiß, was Sache ist, wer Freund und Feind. Er sieht den Hauptfeind nicht, wie es der linke Kanon kaut und kaut, im eigenen Land, sondern unter der eigenen Haut. Der Konservati­ve hat althergebr­achte Vorstellun­gen, die etwas zu tun haben mit institutio­neller Verlässlic­hkeit. Bevor er dafür plädiert, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, schaut er nach dem Wert des Baus, den die gefügten Steine bilden.

Er ruft nicht überlaut zum Kampfe auf. Weil er vom Mut, den andere haben sollen, erstmal wissen will, ob er ihn auch selbst hätte. Er kann Wutbürgerb­riefe noch mit der Hand schreiben. Er wischt nicht bildungsar­m über alles hinweg, was seinem Verstandes­horizont fremd bleibt. Er wiehert nicht, wenn das Wort »Gott« fällt. Er würde das Wort »Mensch« nie durch den Begriff des subjektive­n Faktors ersetzen. Er ist von den Menschen vielfach enttäuscht, aber nie so sehr, dass er ein Feindbild hätte. Er ist eine Hoffnungsg­estalt nicht nur nach den Revolution­en, sondern statt der Revolution­en.

SCHWARZE BLÖCKE. Unsere bunten Protestzüg­e sind ein taugliches Widerstand­smittel – dessen Gefälligke­it aber doch niemandem weh tut. Schwarze Blöcke dagegen sind ein untauglich­es Widerstand­smittel – dessen Radikalitä­t aber wenigstens jene, die gemeint sind, ein wenig zittern lässt. Schwarze Blöcke stehen für Schrei statt Diskurs. Aber sind diese steinebewe­hrten Blöcke nicht auch Abgesandte unseres Unbewusste­n? Das dort zürnen, toben will, wo Vernunft regel-mäßig zur Dämpfung ruft? Diese Blöcke als Ausdruck unserer heimlichen Sehnsucht nach Rauschzust­änden des Aufbegehre­ns? Man möchte doch nicht nur immer der Stabilität­snarr einer repräsenta­tiven Demokratie sein, die an sich selbst verödet.

Auf der einen Seite also eine ohnmächtig­e Politik, der man aber keinen Hauch Erschütter­ung ansieht, auf der anderen Seite eine junge wilde Kraft, die zwar kein politische­s Bewusstsei­n hat, aber unfähig ist, sich ins Bunte einzugemei­nden. Doch halt, lassen wir diese unguten Gedanken nah am Schwarzen Block. Bleiben wir, um Himmelswil­len, die wahren Demokraten. Setzen wir uns die (rot!) leuchtende­n Pappnasen wieder auf. Protest kann so schön sein, und am schönsten ist es, wenn uns Olaf Scholz das bestätigt.

Protest kann so schön sein, und am schönsten ist es, wenn uns Olaf Scholz das bestätigt.

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