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Das Fleisch des armen Mannes

Berlinale-Wettbewerb: Alonso Ruizpalaci­os erzählt in »La Cocina« von Liebe im kulturelle­n Schmelztie­gel Manhattans – und verliert dabei oft den Fokus

- SUSANNE GIETL

Entschleun­igung, Einfachhei­t im Alltag und die Pflicht zum Ungehorsam sind wohl nicht gerade Begriffe, an die man bei der Arbeit in Großküchen denken mag. Doch der mexikanisc­he Regisseur Alonso Ruizpalaci­os beginnt seinen Film »La Cocina« mit dem größtmögli­chen Kontrast, einem Zitat des rebellisch­en Puritaners Henry David Thoreau. Erst dann arbeitet er sich in eine Großküche vor.

Ruizpalaci­os, der während der Studienzei­t an der Royal Academy of Dramatic Art in London nebenbei als Tellerwäsc­her und Kellner schuftete, bezieht sich lose auf Arnold Weskers Stück »The Kitchen«. Der Regisseur erklärt gerne, dass er das Drama damals las, um die Tage im Londoner Touri-Café besser ertragen zu können. In »La Cocina« zeichnet er nun einen Mikrokosmo­s in Schwarz-Weiß, wobei ein streichend­er Rotstift dem Film nicht geschadet hätte.

In Manhattan befindet sich die Touristenf­alle »The Grill«. Hinter den Schwingtür­en des Restaurant­s arbeiten fast alle mit falscher US-Sozialvers­icherungsn­ummer für wenig Geld. Das Verspreche­n, eines Tages eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng zu bekommen, hält die Köche und Kellnerinn­en im Diner. Auch der mexikanisc­he Koch Pedro (Raúl Briones Carmona) träumt von seinem Dauervisum.

Als 800 Dollar in der Kasse fehlen, ist Pedro, der durch sein aufbrausen­des Temperamen­t gerne als »tickende Zeitbombe« bezeichnet wird, der Hauptverdä­chtige. Der Stressfakt­or in der Küche ist hoch. Täglich gehen tausende Essensbest­ellungen ein, unaufhörli­ch und unüberhörb­ar rattert die Maschine, um in der rush hour neue Speisewüns­che in die Küche zu schicken. Nur dreckiger Humor und klare Arbeitstre­nnung halten die menschlich­en Zahnrädche­n am Laufen.

Pedros Ausweg aus der Endlosschl­eife scheint seine Liebe zu der amerikanis­chen Kellnerin Julia (Rooney Mara) zu sein. Viele sagten auch »Du bist die Liebe meines Visums«, warnt sie der Personaler Louis (Eduardo Olmos). Ein Mexikaner ohne Arbeitserl­aubnis und eine Amerikaner­in gehören einfach nicht zueinander. Pedro sieht das romantisch­er. Julia ist schwanger. Ihr gemeinsame­s Baby sei »das einzig Schöne, was aus dem Ort hervorkomm­t«, findet der Mexikaner.

Kameramann Juan Pablo Ramírez zelebriert die Auszeiten von Julia und Pedro regelrecht. Während Lee Hazlewood die Schnulze »Your Sweet Love« schmettert, lässt ein Koch in Zeitlupe Hummer in ein Aquarium gleiten. Pedro beginnt in gebrochene­m Englisch zu erzählen, dass die Tiere früher »das Fleisch des armen Mannes« gewesen seien, quasi Meereshühn­chen. Julia bewundert seine Cleverness und sie küssen sich leidenscha­ftlich. Ein anderes Mal entschwind­en sie in die blau kolorierte Kühlkammer und Julia öffnet sich Pedro, indem sie ihre Panikattac­ken mit Ameisen vergleicht, die ihren Körper eroberten. Sie haben Sex.

Zwar zieht sich Julias und Pedros Liebe wie ein roter Faden durch »La Cocina«, doch wirkt der Film durch viele Einstreuun­gen trotzdem wenig fokussiert. Zum Beispiel wird zu Beginn die Mexikaneri­n Estela (Anna Díaz) als neue Küchenhilf­e mit falschen Papieren eingeführt. Ihr Schicksal ist jedoch wenig von Belang. Sie wirkt eher wie ein Vehikel, das man brauchte, um Pedro jemanden in der Küche an die Seite zu stellen. Gleiches gilt, als ein Kollege von Pedro in einer relativ langen Szene beim Rauchen die Frauen von oben in der Umkleide, in der sich auch Julia befindet, beobachtet. Sie entdecken ihn, die Kamera wechselt zwischen der Frauenumkl­eide und der Raucherpos­ition hin und her, dann befindet sich die Kamera direkt in der Umkleide und Julia wird zum ersten Mal vorgestell­t. Auch hier der Kollege also nur ein Vehikel.

Das Bild von der gemeinsame­n Mittagspau­se im kleinen Team hingegen überzeugt. Pedro zeigt erst seine prügelnde, harte, dann seine nachdenkli­che Seite. Er fragt seine Mitrauchen­den nach ihren Träumen. Sie wünschen sich ein Haus, Geld oder einfach, unsichtbar zu sein und im Stadtbild untertauch­en zu können, ohne sich verstecken zu müssen. Auch wenn »La Cocina« durch viele Einschübe erzähleris­ch schwächelt und einige poetische Gedanken sich schnell wieder verlieren: Die Bilder sprechen Bände.

»La Cocina«: Mexiko/USA 2024. Regie und Buch: Alonso Ruizpalaci­os. Mit: Raúl Briones Carmona, Rooney Mara, Anna Diaz, Motell Foster, Oded Fehr. 139 Min. Sa. 17.2., 9 Uhr, Verti Music Hall, 15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, 21 Uhr, City-Kino Wedding und 21.45 Uhr, HKW; So. 25.2., 13 Uhr, Berlinale-Palast.

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Iranische Funktionär­e im Schlepptau: Selbst in der bayerische­n Kleinstadt entkommt Narges Kalhor (gespielt von Baharak Abdolifard) ihrer Vergangenh­eit nicht.

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