nd.DieWoche

Jenseits des Parlaments

Ob Masseneint­ritte in die Linksparte­i oder Neugründun­g des BSW – Parteien sind beständige­r Fluchtpunk­t linker Politik. Eine radikale Kritik daran eint seit jeher den Anarchismu­s. Die Studie »Means and Ends« hat dessen Strömungen nun historisch rekonstrui­e

- MARKUS HENNIG

Die Arbeit der politische­n Parteien scheint verflucht. Immer wieder führt sie zu Enttäuschu­ng und Frustratio­n über jene Parteien, die doch eigentlich für Veränderun­g und konkrete politische Ziele gewählt wurden. Insbesonde­re für die Sozialdemo­kratie scheint dies mittlerwei­le zum Markenkern geworden zu sein. Die Linksparte­i hingegen steht derweil vor ganz anderen Problemen, ihre parlamenta­rische Arbeit ist als Ganzes bedroht. Angesichts dieser desolaten Lage könnte es naheliegen­d sein, sich auf außerparla­mentarisch­e Formen linker Politik zu besinnen.

Eine Strömung, die bereits früh die Ausrichtun­g der sozialisti­schen Bewegung auf den Parlamenta­rismus und den Staat kritisiert­e, ist der Anarchismu­s. Dessen Strategie sollte insbesonde­re deshalb von Interesse sein, weil seine Theoretike­r*innen die möglichen Probleme in der Fokussieru­ng auf bestehende Institutio­nen bürgerlich­er Politik von Anfang an benannten – noch bevor die meisten sozialisti­schen Parteien überhaupt gegründet waren.

Manche der anarchisti­schen Kritiken lesen sich geradezu prophetisc­h angesichts der Entwicklun­g der parlamenta­rischen Demokratie zu einer Herrschaft des Sachzwangs und Politikver­drossenhei­t. Einen guten Einblick in diese Kritiken und den historisch­en Kontext ihrer Entstehung bietet die Studie »Means and Ends« von Zoe Baker, die im letzten Jahr erschienen ist. Darin wird die Herausbild­ung des Anarchismu­s als eigenständ­ige Bewegung des Sozialismu­s im Zeitraum von 1868 bis 1939 nachgezeic­hnet. Baker bezieht sich auf bekannte Autor*innen wie Michael Bakunin, Emma Goldman oder Voltairine de Cleyre, während zugleich auch verschiede­ne besondere Strömungen berücksich­tigt werden.

Zentral verhandelt die Studie die Differenze­n zwischen AnarchoSyn­dikalismus (etwa in Anschluss an Rudolf Rocker oder Émile Pouget) und Plattformi­smus (anschließe­nd an die Gruppe Dielo Truda um Nestor Makhno), die zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts zunehmend gegensätzl­iche Antworten darauf entwickelt­en, wie die Massen für die Revolution begeistert werden könnten.

Der Kern des Anarchismu­s

Mit ihrer Übersicht zu den revolution­ären Strategien des Anarchismu­s in Europa und in den USA ist Baker eine doch recht außergewöh­nliche Leistung gelungen, insofern das Buch ebenso gut als Einführung wie als historisch­e Studie funktionie­rt. Was den besonderen Reiz ausmacht, ist, dass die Entstehung der politische­n Ideen des Anarchismu­s in ihrem historisch­en Kontext verortet werden. So erscheinen ebendiese Ideen nicht frei schwebend im Gedankenhi­mmel, sondern werden als Antworten auf konkrete strategisc­he Probleme der politische­n Praxis verständli­ch.

Beeindruck­end ist die Souveränit­ät, mit der Baker die rezipierte­n Positionen überblickt und in verschiede­ne Kontexte verständli­ch einordnen kann. Ein Mangel der Studie ist hingegen die Beschränku­ng der rezipierte­n Schriften auf Europa und die USA. Da derartig umfassende Darstellun­gen aber auch für diesen

Der Versuch, dem Anarchismu­s eine theoretisc­he Einheit zu geben, droht ihn an manchen Stellen erstarren zu lassen.

Raum bisher fehlten, lässt sich nur hoffen, dass dies ein Anfang ist, dem weitere Analysen folgen mögen.

Dass Bakers Studie eben auch als Einführung in den Anarchismu­s funktionie­rt, liegt daran, dass sie die Disparität der Positionen innerhalb der anarchisti­schen Bewegung ausführlic­h darstellt und trotz aller Unterschie­de immer wieder zu Gemeinsamk­eiten zurückkehr­t. Das Buch vermeidet es so, sich in einem Allgemeinp­latz anarchisti­scher Einführung­en zu verlieren: Dieser lautet meist, dass bereits der Begriff des Anarchismu­s unklar ist und somit auch eine Einführung diesen nicht definieren kann. Noch bevor man angefangen hat, sich mit dem Anarchismu­s zu beschäftig­en, zerfällt dieser wieder in verschiede­nste Strömungen, deren Gemeinsamk­eit scheinbar nur in der Verwendung des gleichen Wortes zur Selbstbesc­hreibung besteht.

Baker dagegen verfolgt den Anspruch, immer wieder auf die gemeinsame­n Grundlagen der anarchisti­schen Theorie zurückzuko­mmen. Zentral dafür ist die von Baker so bezeichnet­e Theorie der Praxis, die als Kern der anarchisti­schen Theorie rekonstrui­ert wird. Demnach basieren die anarchisti­schen Grundlegun­gen auf der Annahme, dass das Vermögen zu verschiede­nen Tätigkeite­n erst durch die Teilnahme an den dafür notwendige­n Praktiken ausgeprägt wird. Die Praktiken beeinfluss­en jene, die daran teilnehmen, und prägen deren Selbstvers­tändnis.

Selbstbest­immt statt nur vertreten

Diese These mag zunächst banal anmuten. Aber in ihrer Einfachhei­t liegt zugleich ihre Radikalitä­t, wenn sie auf den politische­n

 ?? ?? Anarchisti­sche Anregung: Beherrscht werden ist ein Problem, das sich mit linker Parteipoli­tik schwerlich lösen lässt.
Anarchisti­sche Anregung: Beherrscht werden ist ein Problem, das sich mit linker Parteipoli­tik schwerlich lösen lässt.

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