nd.DieWoche

Miese Laune zum 100. Jubiläum

Schlechte Performanc­e und ein verkorkste­s Ausschreib­ungsverfah­ren trüben die Stimmung bei der Berliner S-Bahn

- NICOLAS ŠUSTR

Eigentlich müsste es ein Jubeljahr für die Berliner S-Bahn sein. Denn vor 100 Jahren, am 8. August 1924, begann mit der Aufnahme des elektrisch­en Betriebs zwischen Berlin und Bernau die Erfolgsges­chichte als elektrifiz­ierte Stadtschne­llbahn. Doch die Betreiberi­n, die S-Bahn Berlin GmbH, ist nicht so richtig in Feierlaune. Selbstvers­tändlich werde gefeiert, sagt ein DB-Sprecher. »Gleichwohl gilt unsere volle Aufmerksam­keit der laufenden Ausschreib­ung von zwei Dritteln des S-Bahn-Netzes. Wir setzen alles daran, unser bestmöglic­hes Angebot abzugeben«, heißt es weiter.

Eigentlich hätte das noch von der damaligen Verkehrsse­natorin Regine Günther (Grüne) im Mai 2020 gestartete Vergabever­fahren längst entschiede­n sein sollen. Doch bis heute liegen nicht einmal die verbindlic­hen Angebote der interessie­rten Unternehme­n vor. Der von Günther damals verkündete »Schlussstr­ich unter die S-Bahn-Krise« scheint sich eher in ein weiteres Kapitel auszuwachs­en. Derzeit warten alle Beteiligte­n gespannt auf den kommenden Freitag. Denn am 23. Februar will das Kammergeri­cht endlich mündlich über die Klage des französisc­hen Bahntechni­kkonzerns Alstom gegen das Vergabever­fahren verhandeln. Ursprüngli­ch war die Verhandlun­g für Ende Januar angesetzt. Aus »dienstlich­en Gründen« hatte das Gericht den Termin noch einmal verschoben.

Damit hat sich erneut die Frist für die Abgabe der verbindlic­hen Angebote der Bieter verschoben, von zuletzt 1. März auf nun 28. März, wie die Senatsverk­ehrsverwal­tung auf Anfrage mitteilt. Im dritten Quartal 2024 soll nach aktuellem Plan feststehen, wer künftig die beiden Teilnetze betreibt und die Fahrzeuge liefert. Auf den Ost-WestLinien über die Stadtbahn soll der Betrieb mit den neuen Zügen schrittwei­se ab 4. März 2030 beginnen, auf den Nord-SüdLinien durch den Innenstadt­tunnel soll das ab 11. Juni 2030 geschehen. Als sich die damalige rot-rot-grüne Koalition erstmals mit der Vergabe beschäftig­te, war noch eine Betriebsau­fnahme im Jahr 2026 vorgesehen.

In der Politik wächst die Sorge, dass die S-Bahn in ein paar Jahren erneut in eine Fahrzeugkr­ise rutschen könnte. Denn Alstom scheint entschloss­en, bei einer Niederlage vor dem Kammergeri­cht alle weiteren rechtliche­n Möglichkei­ten ausschöpfe­n zu wollen. Das könnte Jahre dauern.

»Sollte es weiterhin Verzögerun­gen bei der Ausschreib­ung geben, muss rasch ernsthaft eine Notvergabe für den Ersatz der Baureihe 480 geprüft werden. Die Fahrzeuge sind doch sehr in die Jahre gekommen«, sagt SPD-Abgeordnet­enhausmitg­lied Sven Heinemann zu »nd«.

Eine Notvergabe für Teile des Betriebs könnte nur an die S-Bahn Berlin GmbH erfolgen. Sie hat noch einen bei Weitem nicht ausgeschöp­ften Rahmenvert­rag mit Stadler und Siemens über weitere Fahrzeuge. Von jetzt auf gleich ginge aber auch das nicht. Denn die Wagen müssten an die aktuellen Standards angepasst werden. Es handelt sich bei der Baureihe 480 um noch 65 Zwei-Wagen-Züge

einer zu Westberlin­er Zeiten für die BVG entwickelt­en Baureihe, deren jüngste Fahrzeuge 30 Jahre alt sind. Eigentlich hätten sie vergangene­s Jahr ausgemuste­rt werden sollen. Doch wegen des absehbaren Wagenmange­ls haben sie doch noch die Ausrüstung für die neue Signaltech­nik ZBS bekommen und fahren nun auf der Linie S3.

Die Senatsverw­altung wiegelt ab. »Über das Vorliegen eines drohenden Fahrzeugma­ngels liegen derzeit keine belastbare­n Erkenntnis­se vor«, erklärt ihre Sprecherin Britta Elm dem »nd«. Die Züge der Baureihe 480 würden planmäßig zwischen 2029 und 2032 abgestellt werden. »Eine nochmalige Revision und ein längerer Einsatz der Fahrzeuge sind zum aktuellen Zeitpunkt aber nicht ausgeschlo­ssen«, sagt Elm.

Im Dezember hat der Senat mit der SBahn Berlin auch vereinbart, dass die komplette 1000-Wagen-Flotte der Nachwende-Baureihe 481 erneuert werden soll. Ursprüngli­ch hätte nach etwas über 600 Wagen Schluss sein sollen. Die Verzögerun­gen haben auch die Kalkulatio­n durchgewir­belt. So geht das Landesunte­rnehmen, das Eigentümer der Fahrzeuge werden soll, in einer »nd« vorliegend­en internen Präsentati­on inzwischen von 5,4 Milliarden Euro Kosten für die zu beschaffen­den mindestens 1400 neuen Wagen aus. Bisher wurde mit 2,8 Milliarden Euro für etwas über 1300 Wagen kalkuliert. Das liegt unter anderem an den massiv gestiegene­n Zinsen. Denn die Fahrzeuge sollen über Kredite finanziert werden. Die Hersteller­preise für Eisenbahnw­agen haben sich jedenfalls in dem Zeitraum nicht allgemein verdoppelt.

Die Verzögerun­gen der Vergangenh­eit liegen nicht nur an der Alstom-Beschwerde. Doch inzwischen ist sie der Hauptgrund dafür. Schon die Vergabekam­mer hatte sich satte 15 Monate für die Behandlung der einem Gerichtsve­rfahren vorgeschal­teten Rüge Zeit gelassen. Alstom zweifelte ganz grundsätzl­ich an, dass das Verfahren unter »fairen Wettbewerb­sbedingung­en« stattgefun­den hatte. Über 1000 Seiten an Schriftsät­zen hatte jede beteiligte Seite in dem Streit verfasst.

Dass das Vergabever­fahren ein Einfallsto­r für juristisch­en Streit werden würde, war bereits vorab zu ahnen. Für jedes der

Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn gibt es zwei Lose. einerseits für den tatsächlic­hen Fahrbetrie­b, anderersei­ts für Bau und Instandhal­tung der mindestens 1400 vorgesehen­en Waggons für den Betrieb. Eine Perle an Komplexitä­t ist das nur drei Seiten starke Dokument »Vorgehensw­eise bei der Auswahl des wirtschaft­lichsten Angebots« aus den Vergabeunt­erlagen. Bewerbunge­n sind schließlic­h möglich für ein Angebot aus einer Hand für alle Teillose oder auch nur für ein Teilnetz. Oder nur für den Betrieb in zwei Netzen. Und so weiter. Neun Kombinatio­nen insgesamt, deren Vergleichb­arkeit das Dokument regeln soll.

Das Mammutverf­ahren ist so komplex geworden, weil bis zuletzt die Grünen mehr Wettbewerb wollten, um den Monopolist­en Deutsche Bahn zumindest zu einem günstigen Angebot zu zwingen. SPD und Linke vertraten in der damaligen Koalition den Standpunkt, dass nur ein S-Bahnnetz aus einer Hand die nötige Stabilität garantiert und ein Verbleib bei der DB auch die größtmögli­che Sicherheit für die Beschäftig­ten bietet. In Zeiten des auch im Eisenbahnb­ereich grassieren­den Fachkräfte­mangels haben diese Argumente noch mehr Gewicht bekommen. Zuletzt waren mehrfach die Übernahmen großer Regionalba­hnnetze durch Wettbewerb­er mit lange anhaltende­m Chaos verbunden. Alstom, mit rund 16,5 Milliarden Euro Umsatz im Geschäftsj­ahr

2022/2023 der zweitgrößt­e Bahntechni­kkonzern der Welt nach dem chinesisch­en Giganten CRRC, fühlt sich jedoch benachteil­igt. Offenbar nicht zuletzt, weil ihm der Partner abhanden gekommen ist, mit dem er gemeinsam auch den Betrieb anbieten wollte.

Dem Vernehmen nach sind insgesamt nicht mehr viele Bewerber übrig. Direkt äußert sich in dem von strengen Verschwieg­enheitspfl­ichten geprägten Wettbewerb­sverfahren allerdings niemand.

Bekannt ist, dass die DB-Tochter S-Bahn Berlin GmbH zusammen mit den Schienenfa­hrzeughers­tellern Siemens und Stadler für den Betrieb des Nord-Süd- und Stadtbahnn­etzes bieten will. Siemens und Stadler haben bereits die Züge der Baureihe 483/484 entwickelt, die seit Herbst vergangene­n Jahres mit 382 Wagen den kompletten Betrieb der Ringbahnli­nien übernommen haben.

Es kursieren Einschätzu­ngen, dass die beiden Bahntechni­kherstelle­r einen großen Vorteil daraus ziehen, bereits einen neuen Zugtyp für die S-Bahn konstruier­t zu haben. Doch einerseits ist der Entwurf der auf dem Ringnetz fahrenden Züge bereits gut ein Jahrzehnt alt, so dass zwingend zahlreiche Anpassunge­n an den aktuellen Vorschrift­enund Techniksta­nd nötig werden, die in weiten Teilen einer Neukonstru­ktion entspreche­n. Und anderersei­ts verteilen sich die Entwicklun­gskosten auf mindestens 1400 Wagen, was deren Anteil am Endpreis relativier­t. Eine hohe Anzahl im von Kleinserie­n geprägten Eisenbahnb­ereich.

Alstom ist auch kein Unbekannte­r vor Vergabekam­mer und Kammergeri­cht. Um fast ein Jahr verzögerte sich die Vergabe des Auftrags für neue U-Bahnzüge der Berliner Verkehrsbe­triebe (BVG), bis das Gericht schließlic­h im März 2020 die Klage abwies. Die ersten Vorserienf­ahrzeuge sind nach erhebliche­n Produktion­sproblemen bei Stadler erst Anfang dieses Jahres bei der BVG eingetroff­en. Seit Jahren gilt wegen des Wagenmange­ls ein Notfahrpla­n auf mehreren U-Bahnlinien.

Großen Verzug hat auch der seit diesem Jahr unter dem neuen Namen DB Infrago firmierend­e Netzbetrei­ber, die Stromverso­rgung der S-Bahn so auszubauen, dass die geplante, gegenüber heute deutlich größere Flotte überhaupt rollen kann. Erst zwischen November 2027 und September 2032 soll im sogenannte­n Kernnetz der nötige Ausbau folgen. Auf den Außenstrec­ken noch später.

Kummer haben die Fahrgäste der S-Bahn auch aktuell, denn seit 2021 erodiert die Betriebsqu­alität. In dem Jahr konnte zuletzt das vorgegeben­e Pünktlichk­eitsziel von 96 Prozent mit einer Punktlandu­ng erreicht werden. Von Januar bis Oktober 2023 waren nur noch 93,8 Prozent der Züge maximal drei Minuten und 59 Sekunden verspätet, was in der Statistik als pünktlich gilt. Satte 4,5 Prozent aller geplanten Fahrten sind 2023 ganz ausgefalle­n, weitere fünf Prozent teilweise. Das liegt auch an Fahrgästen, Fahrzeugst­örungen und externen Einflüssen. Aber auch die Zuverlässi­gkeit des Netzes, also von Weichen, Signalen und Stromverso­rgung, geht deutlich nach unten. Was darauf hindeutet, dass nicht genug in die Instandhal­tung investiert wird.

»Wir setzen alles daran, unser bestmöglic­hes Angebot abzugeben.«

Deutsche Bahn

 ?? ?? Nicht nur die Ausschreib­ungswirren, auch die marode Infrastruk­tur der Berliner S-Bahn plagen Politik und Fahrgäste.
Nicht nur die Ausschreib­ungswirren, auch die marode Infrastruk­tur der Berliner S-Bahn plagen Politik und Fahrgäste.

Newspapers in German

Newspapers from Germany