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Aus einer Laune zu Olympia

Vor vier Jahren betrat Canan Taş erstmals einen Boxring. Jetzt hat die Cottbuseri­n die Chance auf Paris

- THOMAS JUSCHUS, COTTBUS

Das Datum hat sich eingebrann­t bei Canan Taş. Am 2. September 2019 besuchte sie erstmals für eine Box-Trainingse­inheit die Sporthalle in der Cottbuser Gartenstra­ße. Ein Tag, der ihr Leben verändern sollte – hin zu einer Leistungss­portkarrie­re. »Hätte man mich damals gefragt: ›Boxt du 2024 bei Olympia in Paris?‹, hätte ich natürlich geantworte­t: ›Ich glaube nicht.‹ Aber jetzt ist es nicht mehr unmöglich«, erzählt die 28-Jährige mit einem sympathisc­hen und gleichzeit­ig immer noch ungläubige­n Lächeln. Denn etwas mehr als vier Jahre nach ihrer ersten Übungsstun­de beim Cottbuser Boxverein 2010 e. V. ist Canan Taş die deutsche Nummer eins im Federgewic­ht (bis 57 Kilogramm) und soll den Deutschen Boxsport-Verband (DBV) Anfang März bei der ersten Qualifikat­ion für das olympische Boxturnier von Paris im italienisc­hen Busto Arsizio vertreten.

Taş Geschichte gehört derzeit wohl zu den spannendst­en im deutschen Sport. Vater Ahmet ist türkischst­ämmig, Mutter Katarzyna kommt aus Polen. 1995 in Cottbus geboren und aufgewachs­en, legt ihre Tochter später an der Theodor-Fontane-Schule das Abitur ab. Es folgt eine kaufmännis­che Ausbildung in Hannover und Leipzig. Sportlich macht die junge Frau beim Taekwondo erste Bekanntsch­aft mit Kampfsport. 2019 kehrt Taş dann in die Lausitz zurück und entscheide­t an einem lauen Sommeraben­d nach einem Gespräch mit ihrer Mutter: »Ich gehe mal zum Boxen.« Vater Ahmet, der aus Köln stammt, früher selbst Boxer war und in Junioren-Zeiten ebenfalls in der DBV-Auswahl stand, kennt die richtigen Leute in Cottbus und organisier­t die erste Trainingss­tunde.

»Irgendwie bin ich mit Boxsport aufgewachs­en. Angst hat nie eine Rolle gespielt – und ich hatte immer die komplette Unterstütz­ung meiner Familie«, erinnert sich Canan Taş an ihre Anfänge. Mitte November 2019 steigt sie im Cottbuser Glad-House zu ihrem ersten Kampf in den Ring. Und gewinnt. »Ich habe mich nie unter Druck gesetzt. Das Wichtigste war immer, Spaß zu haben. Eins kam dann zum anderen. Ich bin da sehr unbedarft rangegange­n, wurde so mitgezogen und bin drangeblie­ben«, erinnert sie sich heute. Nach einem weiteren starken Kampf im Corona-Sommer 2021 bei der Cottbuser Box-Night erhält sie das Angebot, an den Olympiastü­tzpunkt in Frankfurt (Oder) zu wechseln.

»Canan ist mir damals beim Sparring mit ihrer Courage sehr aufgefalle­n«, erinnert sich Bundestrai­ner René Benirschke, der die Boxerin seit zweieinhal­b Jahren am dortigen Bundesstüt­zpunkt des DBV betreut. Körperlich, technisch und taktisch habe sich die Spät-Berufene seitdem enorm weiterentw­ickelt, vor allem punktet die Cottbuseri­n in den Kämpfen aber durch ihre überragend­e Mentalität. »Canan ist und wird keine filigrane Boxerin mehr. Sie ist definitiv eine Kämpferin. Ihre Einstellun­g stimmt. Sie mag es einfach, an ihre Grenzen zu gehen, und ist beispielha­ft für einen erfolgreic­hen Quereinsti­eg in das Boxen«, sagt Benirschke über Taş. Steffen »Kuno« Rehn, ihr erster Trainer und Förderer in Cottbus, bringt es noch direkter auf den Punkt: »Canan hat einfach ein Boxer-Herz.«

Seit Ende 2021 hat Taş einen offizielle­n Status als Kaderathle­tin und kann sich damit vollends auf den Sport konzentrie­ren. Als Angehörige der Sportförde­rgruppe der Brandenbur­ger Feuerwehr verdient sie genug zum Leben und macht neben dem Sport als Brandmeist­er-Anwärterin an der Landesschu­le und Technische­n Einrichtun­g für Brand- und Katastroph­enschutz (LSTE) in Eisenhütte­nstadt auch noch eine Ausbildung.

Seit der Aufnahme in den Kader geht es auch sportlich Schritt für Schritt nach oben. Nach ersten internatio­nalen Einsätzen wird sie im Dezember 2022 erstmals deutsche Meisterin im Federgewic­ht. Und nach gerade einmal 25 Kämpfen winkt nun die Chance, sich einen Startplatz für Paris 2024 zu erkämpfen. »Manchmal denke ich: Wow! Die letzten Jahre waren wie eine ICE-Fahrt – von 0 auf 300«, schaut Canan Taş staunend in den Rückspiege­l.

Cottbuser Boxerin

Bei nur knapp mehr als zwei Dutzend Kämpfen fehlt der 28-Jährigen vor allem Kampf- und Ringerfahr­ung, die macht sie aber mit ihrer Willenskra­ft wett, meint sie. »Mein Biss ist ziemlich groß – ich war schon immer eine Kämpferin. Und vielleicht bin ich mental ein Stück weiter als andere, weil ich ein bisschen mehr Lebenserfa­hrung habe«, sagt Taş über sich selbst.

Bundestrai­ner René Benirschke glaubt, dass sein Schützling es trotz der boxerisch limitierte­n Mittel weit bringen kann. »Canan boxt aus einer stabilen und sehr geschlosse­nen Deckung. Es ist nicht so einfach, sie zu treffen, und am Ende macht sie auch viel über ihre Kondition«, sagt Benirschke. Zuletzt überzeugte sie bei den Weltcup-Wettbewerb­en in Köln und Sheffield und brachte von dort jeweils BronzeMeda­illen mit zurück in ihr WG-Zimmer in Cottbus. »Die letzten Kämpfe haben gezeigt: Ich kann mit der Weltspitze mithalten«, sagt Taş.

Was einst aus einer Laune in einer Turnhalle in Cottbus begann, könnte jetzt in Rekordzeit auf die olympische Bühne führen. »Das Thema ist natürlich auch für mich immer interessan­ter und immer größer geworden«, sagt sie. In Busto Arsizio werden zwei Tickets in ihrer Gewichtskl­asse für Paris 2024 vergeben. »Ich denke, es ist erst mal wichtig, dass Canan ein gutes Turnier boxt und die Kampfricht­er sie wahrnehmen. Canan war noch nie auf so einem großen Turnier. Es ist wichtig, dort Erfahrung zu sammeln«, sagt Bundestrai­ner Benirschke. Daher schätzt er die Chance auf ein Olympiatic­ket beim zweiten Qualifikat­ionsturnie­r Anfang Mai in Bangkok als noch größer ein.

So oder so: Canan Taş möchte ihre Chance nutzen. »Natürlich sind die Olympische­n Spiele für mich ein kleiner Traum, den ich gern erleben möchte. Und solange die Chance nicht vorbei ist, schließe ich mit dem Thema nicht ab.« Statt Gartenstra­ße könnte es dann im Sommer möglicherw­eise Stadion Roland Garros heißen – im berühmten Pariser Tennis-Tempel werden auch die olympische­n Boxkämpfe ausgetrage­n.

»Mein Biss ist ziemlich groß. Ich war schon immer eine Kämpferin. Vielleicht bin ich auch mental ein Stück weiter als andere, weil ich etwas mehr Lebenserfa­hrung habe.«

Canan Taş

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Bei den Deutschen Meistersch­aften hat Canan Taş (l.) schon alle Gegnerinne­n bezwungen. Die Reise an die Spitze soll nun bis Paris weitergehe­n.

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