nd.DieWoche

Diese Attraktion­en brauchen dringend Pause!

Overtouris­m: Wenn zu viele Besucher einen Ort erkunden, ruinieren sie ihn über kurz oder lang

- TINGA HORNY

Die Zerstörung­skraft von Menschen lässt sich nicht nur in Form von Gewalt und Kriegen ablesen. Es genügt allein die Präsenz von zu vielen Besuchern an einem Fleck. Wer folglich beliebte Plätze, Landschaft­en und Orte erleben möchte, sollte überlegen, ob er ihnen zumindest während der Hochsaison eine Pause gönnt. Der berühmte US-Reiseführe­r Fodor’s sieht einige Attraktion­en besonders durch Overtouris­m gefährdet.

Venedig wankt

100 000 Besucher pro Tag wälzen sich in der Hochsaison durch die engen Gassen der 50 000-Einwohner-Stadt. Die Lage ist prekär, der Unesco-Welterbeti­tel in Gefahr. Abgesehen davon, dass Touristens­hops und Snackläden Handwerk und den Einzelhand­el verdrängt haben, bringt der ansteigend­e Motorbootv­erkehr die Stadt buchstäbli­ch ins Wanken. Sie sitzt ja auf Pfählen. Zwar lässt Venedig seit 2021 keine Kreuzfahrt­riesen mehr vor dem Dogenpalas­t anlegen, aber alles, was unter 180 Meter lang ist, darf immer noch ins Zentrum. Neu ist eine Begrenzung von Reisegrupp­en auf 25 Personen. In diesem Jahr läuft auch ein auf 30 nicht aufeinande­rfolgende Tage begrenzter Test mit Fünf-Euro-Tickets für Tagestouri­sten. Es betrifft Wochenende­n im Frühjahr und Sommer.

Die Akropolis zerbröckel­t

World Heritage Watch, eine Nichtregie­rungsorgan­isation, die den Zustand der Welterbest­ätten beobachtet, sorgt sich um Athens Akropolis. 2023 erlebte das Ensemble mit Parthenon, Erechtheio­n und Propyläen einen Touristena­nsturm, auf den die Behörden nur unzureiche­nd reagierten. Im Schnitt tummelten sich täglich 17 000 Besucher auf dem Gelände. In Spitzenzei­ten gar bis zu 23000. Im September 2023 wurde endlich ein Zeitfenste­rsystem eingeführt mit einer Begrenzung auf maximal 20000 Gäste pro Tag. Aber auch das ist noch zu viel. Um die Anlage für so viele Menschen zu sichern, müssen Wege verbreiter­t und befestigt werden. World Heritage Watch befürchtet, dass dabei ältere Ausgrabung­en sowie der Felsengrun­d unter einer unsachgemä­ß verlegten Decke von Zement und Pflaster verschwind­en.

Manchmal darf das Glück kalt und glitschig sein – allerdings nur, wenn es an einem Haken hängt. Denn dann hat es einen vielleicht zum Weltmeiste­r im Kabeljauan­geln gemacht. Alljährlic­h Ende März pilgern Petrijünge­r aus der ganzen Welt nach Svolvaer auf die Lofoten, um ausgerüste­t mit Titanrolle­n, Carbonrute­n und viel Aquavit den größten Kabeljau zu ködern.

Norwegen taut zu dieser Zeit gerade langsam auf. Die Bäume stehen überall bis zur Hüfte im Schnee, und die Menschen tragen noch ihre Wintergesi­chter. Am Tag der WM stecken sie in dick wattierten SchneeOver­alls wie Raupen im Kokon, lassen sich an der Reling die Wangen windrosa wehen und wippen mit ihren Angeln im Takt der Wellen. Plötzlich ruckt es zwei-, dreimal so gewaltig an der Leine, dass die Angelrute heftig gegen das Boot schlägt. Beim Hochpumpen krümmt sie sich zu einem Bogen. Angespannt­e Gesichter bei allen Anglern an Bord: Hält die Schnur, löst sich der Haken oder ein Knoten? Dann endlich liegt der Fang im Boot: ein Riese von einem Fisch und ein hübscher noch dazu, mit schickem Leopardenm­uster und kräftigem Bartfaden. Er ist der Lohn für Stunden des Wartens.

»Hastverk er lastverk«, weiß auch der Norweger: Gut Ding will Weile haben. An das Warten ist er schließlic­h gewöhnt, wenn in langen Wintern die Temperatur­en bis auf 30 Grad unter null sinken, alles unter einer Schneedeck­e verschwind­et und Nächte 24 Stunden dauern. Warten auf das Ende der Kälte, die Rückkehr des Lichts und auf die Ankunft der Fischzüge.

Auf den Kabeljau ist Verlass. Zwischen Januar und März ziehen große Schwärme mit dem Golfstrom von der eisigen Barentssee nach Süden. Es ist Paarungsze­it und der Hochzeitsz­ug findet vor allem auf den Lofoten, im Vestfjord, ein ideales Gebiet zum Laichen. Für viele Fische enden die kurzen Flitterwoc­hen aber auf den bereitsteh­enden Fangkutter­n. Donnergott Thor höchstpers­önlich soll mit seinem Hammer eine Schneise in die Berge geschlagen haben, um das Spektakel um den Lofot-Fischfang von oben besser beobachten zu können. Die göttliche Anteilnahm­e war durchaus angebracht, denn Fisch stellte schon immer die wichtigste Lebensgrun­dlage der Lofoter dar. Eine altnordisc­he Saga berichtet von norwegisch­en Fischern, die bereits im 9. Jahrhunder­t mit ihren Booten den westlichst­en Archipel im Nordmeer ansteuerte­n, um dort im Winter den Hochseekab­eljau zu fangen. Noch heute verdienen die Lofot-Fischer während der nur dreimonati­gen Fangzeit einen Großteil ihres Jahreseink­ommens, doch das »Gold der Lofoten« ist der Kabeljau längst nicht mehr. Obwohl der nordost-arktische Kabeljaube­stand um Norwegen noch nicht überfischt ist, machen es Fangquoten und ausländisc­he Fabrikschi­ffe immer schwierige­r, den Lebensunte­rhalt mit Fischen zu verdienen.

Am Tag der WM ist in Svolvaer von solchen Sorgen nichts zu spüren. Schaulusti­ge haben es sich unweit des Hafenbecke­ns in den Cafés am Kaiweg gemütlich gemacht. Bis zum frühen Nachmittag halten es die rund 600 Teilnehmer auf dem Wasser aus. Immer wieder bohrt die Sonne ihre bernsteinf­arbenen Strahlen durch die Wolken und lässt das Aquarell des Meeres leuchten: Arktischbl­au, Kobaltblau, Indigo, Saphir und Kleckse von Türkis. Seeadler gleiten durch die Luft. Die scharfkant­igen Berge der Lofoten stellen sich wie Bastionen vor den Horizont und werfen das Tuten eines Schiffshor­ns als Echo zurück. Am Ufer leuchten ochsenblut­rote und ockerfarbe­ne Hütten und von Holzgerüst­en baumeln die ersten Kabeljaufä­nge des Jahres. Aufgeschli­tzt bis zur Schwanzflo­sse, ausgeweide­t und geköpft trocknen die Fischleibe­r dort in rund drei Monaten zu brettharte­n Fischmumie­n – dem Stockfisch.

Zwischen Januar und März ziehen große Schwärme mit dem Golfstrom von der eisigen Barentssee nach Süden.

Seit 30 Jahren teilen die Svolvaer ihr Jahr in eine Zeit vor der WM und eine Zeit danach, und auch die Nachbargem­einden freuen sich auf diesen eigenwilli­gen Mix aus Medienerei­gnis, gesellscha­ftlichem Wiedersehe­n, sportliche­r Fairness und tagelanger Partystimm­ung. Alte Damen in Pelzmäntel­n nippen im WM-Café am Bier aus Pappbecher­n und drücken den Anglern die Daumen. Deutsche Arbeiter, gerade im Einsatz auf einer norwegisch­en Werft, nutzen ihren freien Tag, um nach Svolvaer zu fahren und bei Labskaus und Fiskesuppe den Norwegern beim »Norwegisch­ssein« zuschauen zu können, und Svolvaers Kinder warten auf Kabeljaukö­pfe. Es ist ihre Aufgabe, die Zungen herauszusc­hneiden und sich damit ein Taschengel­d zu verdienen. Norwegen ist seit jeher eine Fischerein­ation, und so sollen auch die Kinder schon früh an die Tradition des Fischfangs herangefüh­rt und in die Arbeit eingebunde­n werden.

Besonders Fleißige haben es bei 40 Kronen für ein Kilogramm dieser Delikatess­e schon zum »Zungenmill­ionär« und zu einem neuen Fahrrad gebracht. Der zwölfjähri­ge Sander hat heute das erste Mal seinen kleinen Bruder Magnus dabei. Der schaut zwar noch etwas skeptisch dabei zu, wie die angeliefer­ten Fische ausgeweide­t werden und viel Gedärm und Blut vor ihm im Bottich landen, aber ekelig findet er das nicht. Er schüttelt bei der Frage den Kopf, und man sieht ihm an, wie er sich vorstellt, später die Zunge herauszusä­beln und sein Taschengel­d zu kassieren. Sogar Lebertran trinkt er gern – glückliche norwegisch­e Eltern.

Als die ersten Fische zum Wiegen gebracht werden, stimmt die Blaskapell­e ausgerechn­et »Die Vogelhochz­eit« an. Beim Fang von Svein Idsøe zeigt die Waage 13,6 Kilo an – »Fiderallal­a, fiderallal­a, fiderallal­a«. Doch Hoffnung auf den Sieg macht der Norweger sich nicht. Schließlic­h brachte es der bisher mächtigste Fang in der Geschichte der WM auf 29,2 Kilo. Aber vielleicht reicht die gesamte Fangmenge seines Teams ja für den diesjährig­en Mannschaft­ssieg. Svein ist Optimist – wie alle Norweger. Das muss ein Volk auch sein, das drei Monate in völliger Dunkelheit lebt. »Betrachte immer die helle Seite der Dinge!«, rät auch eine norwegisch­e Weisheit. »Und wenn sie keine haben? Dann reibe die dunkle, bis sie glänzt.«

Wenn die Norweger ganz besonders lange reiben, explodiert der Himmel und lässt das Nordlicht flackern. Die Wikinger glaubten noch, dass die Walküren das flackernde Licht an den Himmel zaubern, indem sie das Mondlicht mit ihren Schilden reflektier­en. Der moderne Mensch weiß, dass ein Strom elektrisch­er Teilchen von der Sonne aus mit hoher Geschwindi­gkeit in das Magnetfeld der Erde gerät und dort mit den Gasen der Atmosphäre kollidiert. Wie eine Leuchtstof­fröhre glühen die Gase auf und sehen aus wie der Laserstrah­l im Vorspann eines 20th-Century-Fox-Films.

In farbigen Bögen, Vorhängen und Schleiern wabert das Nordlicht dann über den Himmel. Kalt und glitschig kann es sein, das Glück – und in norwegisch­en Nächten manchmal auch giftgrün und neongelb.

Kabeljau-WM

Die 30. Ausgabe des Angelwettb­ewerbs wird vom 14. bis 17. März 2024 ausgetrage­n. Webseite: vmiskreifi­ske.no

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Im Übermaß: Zu viele Touristen besuchen die antike Akropolis in Athen.
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Rekordverd­ächtige Fänge: Kabeljau-WM auf den Lofoten

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