Erst verteilt, dann erwirtschaftet
Vertreter der FDP werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass »nur verteilt werden kann, was zuvor erwirtschaftet worden ist«. Dass das nicht stimmt, kann man jeden Tag an der Börse erleben, wo Vermögen entstehen, die noch lange nicht »erwirtschaftet« worden sind. Besonders produktiv ist diese Form der spekulativen Reichtumsmehrung derzeit im Bereich Künstliche Intelligenz (KI). So ist der Börsenwert des US-Chipherstellers Nvidia am vergangenen Donnerstag um 277 Milliarden Dollar auf fast 2000 Milliarden Dollar gestiegen. Allein im laufenden Jahr haben die Aktienkurssteigerungen im Bereich KI das Vermögen der 500 reichsten Menschen der Welt um 125 Milliarden Dollar erhöht.
So viel zur Verteilung. Und wo bleibt das »Erwirtschaften«? Das ist weiter unklar. Ökonom*innen forschen und rätseln, ob der Einsatz der KI durch Unternehmen dereinst zu fantastischen, mäßigen oder gar keinen Produktivitätsgewinnen führen wird. Wurzel des Rätsels ist, dass »Produktivitätssteigerungen« im kapitalistischen Sinne nicht bedeuten, dass die Technologie Arbeitsabläufe vereinfacht, beschleunigt oder effektiviert, dass durch KI das Leben schöner, interessanter, angenehmer wird. Es kommt allein darauf an, dass die technische Neuerung auch mehr Umsatz oder Gewinn bewirkt. Nur dann, wenn der Betrieb aus jeder Arbeitsstunde immer mehr Geld für sich herausholt, liegt eine Produktivitätssteigerung vor.
Ob KI die Gesellschaft insgesamt reicher macht, bleibt also fraglich. Sicher ist aber schon, dass ihr Einsatz durch Unternehmen die Konkurrenz verschärft – und zwar die Kostenkonkurrenz zwischen Arbeitskraft und Maschine sowie zwischen den Arbeitskräften. Denn Unternehmen werden die KI nutzen, um Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, um einige Arbeitskräfte produktiver zu machen als andere, um Qualifikationen von Menschen zu entwerten und sie so zu verbilligen.
»Einerseits könnte dies zu niedrigeren Betriebskosten und höherer Produktivität führen«, erklärt die Research-Abteilung der Allianz in einer Studie, »andererseits aber auch zu massiver Verdrängung von Arbeitskräften, Arbeitsplatzverlusten und letztlich zu größerer Ungleichheit«, was die »soziale Resilienz« von Gesellschaften weiter schwächen könnte. Auch der Internationale Währungsfonds warnt vor wachsender Ungleichheit, vor »wirtschaftlichen, sozialen und politische Umwälzungen« durch KI.
An der Börse entstehen derzeit also spekulative Milliardenvermögen im Vorgriff auf mögliche Wirkungen einer Technologie, deren kapitalistische Anwendung das Potenzial hat, Armut und Aufstände zu produzieren – beziehungsweise zu erwirtschaften. Stephan Kaufmann