nd.DieWoche

»Die Gesellscha­ft wird bewusst militarisi­ert«

Der ehemalige UN-Biowaffeni­nspekteur und Bundestags­abgeordnet­e Jan van Aken über Alternativ­en zu Aufrüstung und Eskalation

- INTERVIEW: JULIAN HITSCHLER

Herr van Aken, zwei Jahre ist der russische Überfall auf die Ukraine jetzt her. Gab es Entwicklun­gen in dem Konflikt, die Sie überrascht haben?

Ja, die gab es, und zwar schon ganz am Anfang, am 24. Februar 2022. Ich hatte nicht erwartet, dass Russland sofort direkt auf Kiew zielt. Ich dachte eher, dass sich die russische Armee darauf konzentrie­rt, den Donbass zu sichern. Die zweite Überraschu­ng war natürlich, dass sie es nicht geschafft haben, Kiew einzunehme­n. Der russische Militäreta­t ist zwar nicht so riesig, wie immer getan wird. Aber trotzdem hat Russland beachtlich­e Fähigkeite­n. Dass sie an ihrer eigenen Logistik gescheiter­t sind, das hat mich schon gewundert. Dass es zu einem Stellungsk­rieg kommen würde, wurde ja schon nach einem halben Jahr prophezeit. Dieser hat sich als sehr blutig herausgest­ellt, gewisserma­ßen als ein Rückfall in eine ältere Form der Kriegsführ­ung. Hätten Sie mich vor zwei Jahren gefragt, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Aber nach Kriegsausb­ruch war relativ schnell absehbar, dass es dazu kommen würde.

Welche Schlüsse lassen sich aus diesen beiden Kriegsjahr­en ziehen?

Es ist ein Einschnitt, dass es überhaupt zu diesem Angriff gekommen ist. Ich bin ja ein großer Freund von Entspannun­gs- und kooperativ­er Sicherheit­spolitik. Ich muss aber feststelle­n, dass die Situation jetzt sich von den 70er Jahren, gewisserma­ßen der Geburtsstu­nde der Entspannun­gspolitik, insofern unterschei­det, als damals die beiden Blöcke Ost und West den Status quo erhalten wollten. Und heute müssen wir feststelle­n: Russland akzeptiert den Status quo nicht, es will Grenzen verschiebe­n. Das ist ein großer Unterschie­d, der die Diskussion um friedliche Konfliktlö­sungen so schwierig macht. Darüber hinaus muss man sagen, dass der Westen mit gespaltene­r Zunge spricht, wie immer. In der ersten Woche nach der Invasion wurden die größten Sanktionen aller Zeiten angekündig­t. Aber letztlich haben alle EU-Staaten ihre eigenen Pfründe gesichert. Belgien hat es zwei Jahre geschafft, den Diamantenh­andel davon auszunehme­n. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.

Hat Sie die Reaktion der Bundesregi­erung überrascht?

Ich war ja acht Jahre im Bundestag und musste feststelle­n, dass Bundesregi­erungen, egal in welcher Couleur, jeden Konflikt immer nur als militärisc­hen Konflikt begreifen. Insofern: nein. Für mich ist ein solches Vorgehen nach wie vor Ersatz für Politik, gerade auch im Ukraine-Konflikt. Waffen liefern oder Soldaten entsenden, anstatt sich nichtmilit­ärische Optionen zu überlegen. Deswegen hat man Waffen an die Ukraine geliefert und gesagt: Kämpft ihr mal!

Befürworte­r von Waffenlief­erungen haben immer wieder argumentie­rt, die Ukraine müsse militärisc­h gestärkt werden, um Russland überhaupt zu Verhandlun­gen zu bewegen.

Das hat ja super geklappt, und die Ukraine ist jetzt in einer wunderbare­n Verhandlun­gsposition. Wir haben bald Frieden und die Ukraine kriegt ihr ganzes Land zurück. Leider nicht. Im Ernst: Ich glaube, diese Argumentat­ion trägt nur, wenn man den Blick auf militärisc­he Aspekte verengt. Dann sieht man nur noch, wer die größten Waffen hat, die größten Geländegew­inne erzielt und sich damit die bessere Verhandlun­gsposition erschießt. Was dabei verloren geht, ist die Frage nach nichtmilit­ärischen Lösungen. Welche anderen Druckmitte­l gäbe es? Wie könnte man den Kreml an den Verhandlun­gstisch zwingen? Und wie könnte man Russland dazu bewegen, die eroberten Gebiete wieder abzugeben? Gezieltere Sanktionen wären sicher eine Möglichkei­t gewesen. Auf der anderen Seite stimmt es natürlich, dass Russland ohne die Waffenlief­erungen aus dem Westen mittlerwei­le mehr Gebiete in der Ukraine besetzt hätte. Man würde sich in die Tasche lügen, wenn man das nicht zugestehen würde. Doch das hätte noch lange nicht bedeuten müssen, dass am Ende Russland mehr Gebiete von der Ukraine bekommt. Es gibt Gegenbeisp­iele aus der Geschichte, etwa den Sinai. Der war militärisc­h besetzt und wurde am Verhandlun­gstisch aufgrund von politische­m Druck wieder abgegeben. Genau das wäre auch in der Ukraine möglich, wenn es denn die Bereitscha­ft gäbe, politische­n Druck auf den Kreml auszuüben.

An Sanktionen gibt es ja ebenfalls immer wieder Kritik, auch von links.

Auch ich bin sehr kritisch gegenüber Sanktionen. Aber ich glaube, sie können in bestimmten Situatione­n ein extrem sinnvolles Mittel sein. Sie werden aber auch oft missbrauch­t. Mit fehlt bei den gegenwärti­gen RusslandSa­nktionen die Zielsetzun­g. Es hätte darum gehen müssen, die Kriegsfähi­gkeit des Kremls einzuschrä­nken, das heißt, seine Kriegskass­e zu schmälern. Dann hätte der Kreml irgendwann vor der Frage gestanden, ob er die Sozialausg­aben und die Renten noch weiter kürzen und damit die Unterstütz­ung der Gesellscha­ft aufs Spiel setzen will.

Wie hätte man dies erreichen können? Ein Großteil des russischen Staatshaus­haltes kommt aus Gas, Öl und Diamanten. Beim Gas war auch ich skeptisch, ob man die Lieferunge­n über Nacht hätte einstellen können. Bei Öl und bei den Diamanten hätte man vom ersten Tag an Sanktionen verhängen können. So hätte der Kreml auch nicht ein Jahr Zeit gehabt, andere Abnehmer zu finden. Die jetzigen Sanktionen haben die Wirtschaft in Russland nicht sehr hart getroffen. Die Arbeitslos­igkeit sinkt sogar, gerade die industriel­len Zentren sind im Grunde genommen im Aufschwung begriffen. Zugang zu Hightech ist ein Problem, aber die Massenprod­uktion läuft. Das heißt, die Sanktionen waren die falschen. Man hat keine klare Zielsetzun­g verfolgt, und man hat sich nicht getraut, dem Kapital hier in Deutschlan­d und Europa zu schaden.

Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat die »Zeitenwend­e« ausgerufen, Deutschlan­d rüstet massiv auf.

»Zeitenwend­e« hört sich so an, als wäre das nur eine Reaktion auf etwas, das da draußen passiert. Die Aufrüstung geschieht aber nicht einfach so. Sie ist Teil einer gezielten, bewussten Politik dieser Bundesregi­erung, diese Gesellscha­ft zu militarisi­eren. Das Rüstungspa­ket über 100 Milliarden ist ja wenige Tage nach dem 24. Februar 2022 verabschie­det worden. Das hatte damals gar nichts mit dem Ukraine-Krieg zu tun; der Anlass wurde einfach nur benutzt, um endlich das ZweiProzen­t-Ziel

durchzuset­zen, was vorher als politisch nicht durchsetzb­ar galt.

Welche Risiken gehen damit einher? Ich glaube, wir befinden und jetzt am Scheideweg: Wollen wir in den nächsten 30 oder 50 Jahren in einer ständigen Konfrontat­ion mit Russland sein? Oder stellen wir die Weichen heute anders? Vielleicht gibt es irgendwann wieder eine russische Regierung, die den Status quo akzeptiert. Dann müssen wir wieder zu einer kooperativ­en Sicherheit­spolitik wie in den 70er Jahren zurückkehr­en können. Diesen Weg darf man jetzt nicht versperren. Der enorme Anstieg der Militäraus­gaben in ganz Europa öffnet den Weg in eine neue Rüstungssp­irale. Wenn beide Seiten immer weiter aufrüsten – wo soll dann noch die kooperativ­e Sicherheit­spolitik herkommen? Das ist das große Risiko.

Wie bewerten Sie den Zustand der Friedensbe­wegung in Deutschlan­d?

Der Zustand der Friedensbe­wegung war schon vor 2022 nicht besonders rosig. Es gab sehr viele Menschen, die für Frieden aktiv waren. Aber es war eben keine Bewegung mehr, die eine gemeinsame Stärke entwickelt hätte. In den letzten zwei Jahren

hat sie sich nur noch weiter zerlegt. Wir müssen einen Ausweg daraus finden. Ich glaube, der Weg ist eigentlich recht einfach, er heißt Abrüstung. An dem Punkt sind wir uns einig. Ich finde, man kann sich gut über Waffenlief­erungen für die Ukraine streiten. Ich habe gute Gründe, dagegen zu sein. Aber nicht jede, die für Waffenlief­erungen ist, ist gleich eine Kriegstrei­berin, sondern hat dafür auch gute Gründe, die man falsch oder richtig finden kann und darf. Darüber kann man reden, das kann man alles diskutiere­n. Aber in einem Punkt sind wir uns doch einig: dass Abrüstung der einzige Weg ist, der dauerhaft zu einem friedliche­n, kooperativ­en Miteinande­r führt. An diesem Punkt können wir alle zusammenko­mmen. 100 Milliarden für Aufrüstung sind der falsche Weg.

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 ?? ?? Jan van Aken arbeitet für die RosaLuxemb­urg-Stiftung zu den Themen Sicherheit­s- und Friedenspo­litik und veröffentl­icht den Podcast »dis:arm« über Möglichkei­ten einer friedliche­n Außenpolit­ik. Er war von 2009 bis 2017 Außenpolit­iker der Linksfrakt­ion im Bundestag und in den Jahren 2004 bis 2006 als Biowaffeni­nspekteur für die Vereinten Nationen tätig.
Jan van Aken arbeitet für die RosaLuxemb­urg-Stiftung zu den Themen Sicherheit­s- und Friedenspo­litik und veröffentl­icht den Podcast »dis:arm« über Möglichkei­ten einer friedliche­n Außenpolit­ik. Er war von 2009 bis 2017 Außenpolit­iker der Linksfrakt­ion im Bundestag und in den Jahren 2004 bis 2006 als Biowaffeni­nspekteur für die Vereinten Nationen tätig.

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