nd.DieWoche

Bilder mit Blumen

Meine Großmutter Rachel wollte, dass ich Künstler und universell­er Mensch bleibe – auch in Zeiten des Krieges

- YURY KHARCHENKO

Blumen? fragte ich mich. Sind Bilder mit Blumen das Thema, bei dem ich nach meinen Superhelde­n vor dem KZ gelandet bin? Ich hatte die Superhelde­n aus den Comics meiner Kindheit vor dem »Arbeit macht frei«-Tor von Auschwitz gemalt. Und jetzt eine Serie mit dem »trivialen« Motiv einer Blume, einer sich öffnenden – plastische­n Blüte. Von 2019 bis 2021 fragte ich mich, ob man den Holocaust mit anderen Genoziden vergleiche­n kann. Was ist ein Zivilisati­onsbruch und was ist Barbarei?

Nein, sagte ich mir, ich kann nicht mehr Beavis und Butthead vor dem Tor von Auschwitz malen, die Barbarei geschieht im Hier und Jetzt. Ein Krieg hatte 2022 angefangen. Ich möchte die Lebenslust vor dem Hintergrun­d der Hölle aufgehen lassen, Blumen als Protest gegen den Krieg von Russland in der Ukraine. Ich malte Blumen vor einer Schlucht. Ich konnte nicht mehr, ich wollte auch nicht mehr, was ich aber wollte, war Heilung. Ein Leben vor dem Abgrund der Zerstörung, ich sehnte mich nach Hoffnung. Malereien mit Farbschich­ten, die auf- und abgetragen werden, mal pastoser, mal fließender, um die Sinne zu beleben. Es sind Öffnungen und Schließung­en zugleich.

Es war nicht nur Beginn des UkraineKri­egs, sondern auch die Beerdigung meiner Großmutter, Rachel Gorodetska­ya, die kurze Zeit später am 8. März gestorben ist. Bei den Juden legt man normalerwe­ise keine Blumen auf ein Grabmal, sondern Steine. Wir sind aber russische Juden und wir haben auf ihre Grabstätte in Dortmund Blumen hingelegt, aber auch Steine. Sie war die letzte Holocaust-Überlebend­e, die von unserer Familie ging.

Zurück in Berlin standen viele Menschen vor dem Haus, in dem ich meine Wohnung vermieten wollte, die meisten waren Ukrainer. Sie wollten mit mir auf Ukrainisch sprechen, denn mein Nachname ist typisch ukrainisch. Mein Großvater Michael Grynszpan änderte seinen Nachnamen Grynszpan in Kharchenko, kurz bevor er in die Rote Armee berufen wurde. Er wollte Spekulatio­nen vermeiden, darüber, ob er mit dem Herschel Grynszpan verwandt sein könnte, der 1938 in Paris Ernst von Rath, Sekretär an der deutschen Botschaft in Paris, erschossen hatte, um ein Zeichen gegen die ersten Deportatio­nen von Juden nach Polen zu setzen. Diese Tat diente den Nazis als Anlass für die Reichspogr­omnacht am 9. November 1938.

»Stopp« – sagte ich zu den Ukrainern, »ich verstehe kaum ein Wort, lasst uns alle Russisch sprechen.« Ich fragte eine Frau mit einer Tochter: »Wo kommen Sie her?« – »Aus Mariupol« – antwortete sie. Sie sprach nur, wenn ich sie etwas fragte. Dann fuhren wir zusammen in der U-Bahn und sprachen Russisch. »Ich verstehe nicht, dass

Krieg ist«, sagte ich, »wir sprechen doch alle Russisch.« Sie wurde in Mariupol geboren, ich in Moskau. »Sind wir nicht in der Sprache vereint?«, fragte ich. Die Frau schaute mich misstrauis­ch an und schwieg. Als ich wieder zu Hause war, erinnerte ich mich an die Filme »Schindlers Liste« von Steven Spielberg und an »Shoah« von Claude Lanzmann. Ich schaute mir noch einmal Fotos vom zerbombten Mariupol an. Ich rief die Frau an und sagte ihr, dass sie die Wohnung haben könnte. »Wo sind Ihre Eltern?«, fragte ich. – »Sie sind tot«, sagte sie.

Und dann im vergangene­n Jahr noch ein Krieg. Die Hamas überfiel Israel und Israel griff Gaza an. In meinem Kopf vermischte­n sich die Sujets, die ich gemalt habe: TRex und Ptyrodakte­llus aus »Jurassic Park« und darüber steht »Welcome to Jewish Museum«, fliegende Davidstern­e, die sich mit sowjetisch­en Sternen, Himmelsste­rnen und Sternen der US-Armee vermengen. Meine Großväter in blutgeträn­kten Superman-Kostümen vor den Toren von Auschwitz und es regnet Davidstern­e und Sowjetster­ne, Beavis und Butthead rauchen einen Joint vor den Toren von Auschwitz und zeigen das Peace-Zeichen, Israel auf einer schwarzen Landkarte, Porträts von Oppenheime­r über David Ben-Gurion bis Jacques Derrida und Amy Winehouse.

»Israel gibt es nicht«, »es war ein Fehler, diesen Staat zu gründen«, »du bist deutscher Jude, aber nur ein Gast in Deutschlan­d«, »du profitiers­t von unseren Steuern und inszeniers­t dich als Opfer«, »du bist ein Homo Sovieticus und malst sozialisti­schen Mist – eine Schande für jede Gesellscha­ft« – solche Posts schreiben mir die Biodeutsch­en seit dem 7. Oktober. In letzten vier Monaten habe ich eine Antisemiti­smus-Dosis bekommen, für die ich normalerwe­ise fünf Jahre brauchen würde. Über die übrigen 25 Jahre erlebten Antisemiti­smus in Deutschlan­d kann ich nur so viel sagen: In Düsseldorf hat mich eine Neonazi-Attacke fast das Leben gekostet. An der Kunstakade­mie sagte ein Professor: »das ist ein russischer Jud, aber komischerw­eise ist er gut«. Ein langjährig­er Freund meinte plötzlich: »Für euch ist der Holocaust das größte Heiligtum, wie lange sollen wir Deutsche uns denn noch daran erinnern?«

Trotz dieser dunklen Welt, in der wir gerade leben, in der Faschismus und Nationalis­mus uns alle zu verschling­en drohen, werde ich nicht aufhören, auf universell­e Werte zu setzen. Davon wird mich nicht der stärker werdende deutsche Antisemiti­smus abhalten, nicht die schrecklic­he Tragödie vom 7. Oktober in Israel und auch nicht die rechtsradi­kale Regierung von Netanjahu.

Meine Großmutter Rachel wollte, dass ich Künstler und universell­er Mensch bleibe. Jüdisch sein heißt »Nicht gehorchen«, so waren Abraham, Emmanuel Levinas, Viktor Frankl und so war meine Großmutter. Und so war ihr Mann Arkadij, der in der Roten Armee Widerstand gegen den deutschen Nazionalis­mus geleistet hat, von Stalingrad bis Berlin. Damit wir alle in einer feien Welt leben können.

Meine Großmutter wurde als Rachel Schatz am 26. Januar 1929 in der Stadt Jaroslawl, UdSSR, geboren. Ihr Vater war Boris Schatz und arbeitete als Anwalt für eine Fabrik. Er war auch Dichter und befreundet mit Alexander Block, dem berühmten Poeten und russischen Symboliste­n. Ihre Mutter Nadja war Apothekeri­n. Boris wurde während des Ersten Weltkriege­s schwer verletzt und musste deshalb nicht im Zweiten Weltkrieg kämpfen. Als die Deutschen in die Sowjetunio­n einmarschi­erten, versteckte sich die kleine Rachel in den Bunkern von Jaroslawl. Nach dem Krieg studierte sie Medizin und arbeitete dann ein halbes Jahrhunder­t als Kinderärzt­in.

In den späten 50er Jahren traf sie meinen Großvater. Geboren 1922 als Arkadij Gorodetsky im Vorort der Stadt Smolensk an der Grenze zu Belorussla­nd, sah er mit 13 Jahren, wie die Bolschewik­i seinen Vater abführten, weil er eine Mühle besaß. Es begannen die stalinisti­schen Säuberunge­n und seine Mutter war allein mit Arkadij und seinen zwei Geschwiste­rn. Als er 15 war, brachte man seinen Vater zurück zur Familie, mit einem gebrochene­n Bein. Als er 16 wurde, führte man den Vater wieder ab, er sah ihn nicht mehr wieder. Er wurde als »Feind des Volkes« erschossen. Mit 18 Jahren wurde er in die Rote Armee einberufen und kämpfte in den schrecklic­hsten Kämpfen von Moskau, Stalingrad, Kursk, Minsk, Warschau und Berlin. Er starb 2013 mit fast 92 Jahren in Dortmund. Seine letzten Worte waren: »Vater, Mutter«.

Ich habe ihn 2023 als Superman vor dem Tor von Auschwitz gemalt, zusammen mit seinen Eltern. Ich möchte hier nicht die Anzahl meiner Familienan­gehörigen nennen, die alle von der SS umgebracht wurden. Es ist wichtig, dass meine Großeltern mütterlich­erseits wie väterliche­rseits überlebt haben, sodass meine Eltern auf die Welt kamen und irgendwann auch ich.

In Deutschlan­d wird hauptsächl­ich die Holocaust-Geschichte bis 1945 verarbeite­t, ohne Verantwort­ung für das Hier und Jetzt der Juden. Sie glauben, das mit Stolperste­inen und schwermüti­gen Anselm-Kiefer-Bildern die Befreiung 1945 archiviert wurde. Dass aber die Katastroph­e des Holocausts und des Zweiten Weltkriege­s nach 1945 eine neue Gewaltspir­ale und unzählige Tote mit sich brachte, wollen viele nicht wahrhaben. Der terroristi­sche Massenmord an Juden am 7. Oktober und der Gaza-Krieg, den Israel heute führt, das sehen viele außerhalb ihrer historisch­en Verantwort­ung. Es ist das Schweigen meiner Großeltern, das mich zum Sprechen und zum Malen bringt. Es bleibt eine Leere und eine Aufbruchss­timmung und ein unendliche­s Verlangen nach Ausdruck.

Yury Kharchenko: Painting 2018–2023, Hirmer, 304 S., 220 Abb., geb., 49,90 €.

 ?? ?? Kamille, 2022, Öl auf Leinwand, 200x200cm
Yury Khachenko, geboren 1986 in Moskau, ist ein russisch-deutscher Maler aus Berlin. Von ihm ist gerade ein Katalog beim Hirmer Verlag erschienen. Am 28. Juni beginnt im Hällisch-Fränkische­n Museum in Schwäbisch Hall eine große Einzelauss­tellung von ihm.
Kamille, 2022, Öl auf Leinwand, 200x200cm Yury Khachenko, geboren 1986 in Moskau, ist ein russisch-deutscher Maler aus Berlin. Von ihm ist gerade ein Katalog beim Hirmer Verlag erschienen. Am 28. Juni beginnt im Hällisch-Fränkische­n Museum in Schwäbisch Hall eine große Einzelauss­tellung von ihm.

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