nd.DieWoche

Alles Definition­ssache?

Den Kampf gegen Antisemiti­smus begleitet eine wissenscha­ftliche Kontrovers­e, was darunter genau zu fassen ist. Ein gerade erschienen­er Band beleuchtet Begriffe, Problemfel­der und Positionen – und setzt neue Standards im Verständni­s von Antisemiti­smus

- URS LINDNER

Anfang des Jahres hatte der Berliner Kultursena­tor Joe Chialo versucht, die Vergabe öffentlich­er Fördergeld­er an ein Bekenntnis zur Antisemiti­smusdefini­tion der Internatio­nal Holocaust Remembranc­e Alliance (IHRA) zu koppeln. Deren Kern lautet: »Antisemiti­smus ist eine bestimmte Wahrnehmun­g von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.« Nach teils heftigen Protesten gegen den Bekenntnis­zwang im Allgemeine­n und die IHRA-Definition im Besonderen machte Chialo aufgrund juristisch­er Bedenken einen Rückzieher.

Dass Chialos Vorstoß keine gute Idee war, und zwar ganz unabhängig davon, wie die IHRA-Definition beurteilt wird, zeigt ein gerade erschienen­er Band zu Antisemiti­smusverstä­ndnissen, den Peter Ullrich, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel und Jan Weyand herausgege­ben haben. Denn Chialos Maßnahme kollidiert mit dem mühsam errungenen Grundsatz politische­r Bildung, dass das, was in der Wissenscha­ft kontrovers ist, auch kontrovers diskutiert werden muss.

Kontrovers­e Verständni­sse

Die Definition der IHRA ist in der Wissenscha­ft vor allem als zu unbestimmt und deswegen instrument­alisierbar kritisiert worden. Seit 2021 ist sie zudem mit zwei konkurrier­enden beziehungs­weise sie ergänzende­n Definition­en konfrontie­rt: der Jerusalem Declaratio­n on Antisemiti­sm (JDA) und dem Nexus Document. Der Kern der JDA lautet: »Antisemiti­smus ist Diskrimini­erung, Vorurteil, Feindselig­keit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtun­gen als jüdische).« Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, wie es einige Bundesstaa­ten in den USA tun, Entscheidu­ngsträger*innen mehrere Antisemiti­smusdefini­tionen an die Hand zu geben und – auf Grundlage der Überschnei­dungen zwischen ihnen

– darauf zu vertrauen, dass die Akteur*innen mit den Unterschie­den gut umgehen können.

Die Kontrovers­e um Antisemiti­smusverstä­ndnisse ist, wie Ullrich und Kolleg*innen betonen, keineswegs zufällig oder Resultat von Defiziten einer Seite, sondern in der Sache selbst begründet. Antisemiti­smus ist sowohl historisch als auch gegenwärti­g ein viel zu komplexes Phänomen, als dass es die eine Definition geben könnte, die alles erfasst. Unterschie­dliche Antisemiti­smusdefini­tionen und -begriffe rücken je spezifisch­e Ausschnitt­e ihres Gegenstand­s in den Blick – und alle haben blinde Flecken.

Dass der (deutsche) Antisemiti­smusdiskur­s häufig von Unterstell­ungen, Verdrehung­en und Anschuldig­ungen gekennzeic­hnet ist, dürfte auch damit zusammenhä­ngen, dass viele Teilnehmer*innen (noch) nicht hinreichen­d ihre eigene Perspektiv­ität anerkennen. Der Band ist ein sehr überzeugen­des Plädoyer, genau das zu tun und anderen Akteur*innen gute Absichten zuzuschrei­ben. Entspreche­nd werden Sichtweise­n, die den eigenen zuwiderlau­fen, unter Betonung ihrer Stärken dargestell­t, um sie auf dieser Grundlage zu problemati­sieren.

Ein Handbuch

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Die ersten drei Teile haben den Charakter eines Handbuches. Zunächst werden zehn »Grundbegri­ffe« ausgeleuch­tet, mit denen Antisemiti­smus in der Forschung typisiert wird. Es folgen Einführung­en in 13 »Problemfel­der«, die für Antisemiti­smusverstä­ndnisse relevant sind. Schließlic­h werden 13 »Positionen« vorgestell­t, mit denen Theoretike­r*innen die Frage beantworte­t haben, was Antisemiti­smus ist. Während die Handbuchar­tikel von insgesamt 22 Autor*innen geschriebe­n sind, besteht der vierte und letzte Teil aus einem 75-seitigen Text von Peter Ullrich, der eine Systematis­ierung und wissenscha­ftstheoret­ische Befragung von Antisemiti­smusbegrif­fen vornimmt.

Mit seinem Handbuchch­arakter füllt der Band eine Lücke und zeichnet ein breites Panorama der Antisemiti­smusverstä­ndnisse.

Katharina Kellenbach etwa betont in ihrem Eintrag zum Antijudais­mus, dass sich der moderne Antisemiti­smus nicht trennschar­f von der religiösen Feindschaf­t gegen Jüdinnen und Juden abgrenzen lässt, dass er also vielleicht doch nicht so »modern« ist, wie vielfach angenommen. Meron Mendel reflektier­t »umkämpfte Sprechposi­tionen« und fordert in Anlehnung an Thomas McCarthy, dass »Betroffene« das erste, nicht jedoch das letzte Wort in der Diskussion haben sollten. Unter den »Positionen« werden auch Theoretike­r*innen vorgestell­t, die in der deutschspr­achigen Antisemiti­smusdebatt­e bisher kaum vorkommen wie die 2022 verstorben­e Genozidfor­scherin Helen Fein und der US-amerikanis­che Historiker Jonathan Judaken.

Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist es von besonderem Interesse, was der Band zu Antisemiti­smus im und um den Nahost-Konflikt zu sagen hat. »Entscheide­ndes Kriterium für israelbezo­genen Antisemiti­smus«, so Thomas Haury, »ist nicht die Radikalitä­t der Ablehnung oder die Richtigkei­t der Argumente, sondern ob diese Antisemiti­smus reproduzie­ren«. Demnach ist nicht jede einseitige, schlecht begründete oder vehement vorgetrage­ne »Israelkrit­ik« antisemiti­sch. Haury zufolge haben antisemiti­sche Semantiken seit den 1930er Jahren »zunehmend als Interpreta­tionsfolie«

gedient, »womit in den Realkonfli­kt die Dimension des Antisemiti­smus massiv und kaum entwirrbar eingezogen wurde«.

Wie zuletzt Dan Diner in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung« vom 23. Januar 2024 heben Peter Lintl und Peter Ullrich hervor, dass der Konflikt um Israel/Palästina basal ein nationaler Konflikt um Land ist, der »mindestens aus der Sicht der Palästinen­ser*innen auch (anti-)koloniale Züge« trägt. Damit problemati­sieren sie den »3-DTest« von Nathan Sharansky, der auch in Deutschlan­d weite Verbreitun­g gefunden hat, seriös aber nur als erste Prüfung eines Antisemiti­smusverdac­hts dient: »Die drei Kriterien des Tests zur Erkennung von Antisemiti­smus (Delegitima­tion, Dämonisier­ung, doppelte Standards) sind nicht nur Strategien beider Seiten, die im Konflikt selbst strukturel­l angelegt sind, sondern vielmehr, wie die Konfliktfo­rschung zeigt, Bestandtei­l vieler Konflikte.«

In einem weiteren Eintrag der »Problemfel­der« rekonstrui­ert Ullrich »zwei Familien von Antisemiti­smusbegrif­fen«. Das »substanzie­lle« Konzept macht Antisemiti­smus vom Vorliegen einer antisemiti­schen Semantik abhängig, die sich gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden richtet. Der »abstrakt-formale« Begriff diagnostiz­iert dagegen dann Antisemiti­smus, wenn allgemeine Negativmer­kmale und -strategien gegen eine jüdische Entität gewendet werden, also Israel zum Beispiel zu einem »Apartheids­taat« erklärt wird. Die JDA befindet sich demnach auf der substanzie­llen Seite, die IHRA-Definition irgendwo zwischen den beiden Begriffsfa­milien.

Gründe für Pluralismu­s

In seinen synthetisi­erenden Abschlussü­berlegunge­n, die durch große analytisch­e Präzision bestechen, betont Ullrich auch die »notwendige Vagheit« von Antisemiti­smusdefini­tionen und verweist auf Überraschu­ngen in ihrer Anwendung. Das lässt sich gut am Beispiel der deutschen Antisemiti­smusbeauft­ragten verdeutlic­hen. Einige von ihnen sind wenig zimperlich in der Ausgrenzun­g antizionis­tischer Jüdinnen und Juden, was ihnen wiederholt Antisemiti­smusvorwür­fe eingetrage­n hat.

Mit der JDA müssen die Beauftragt­en gegen derartige Vorwürfe verteidigt werden, auch wenn ihre Praktiken als illiberal oder sonst wie fehlgeleit­et kritisiert werden können. Sie grenzen Jüdinnen und Juden nicht als Jüdinnen und Juden aus, sondern als Antizionis­t*innen. Die IHRA-Definition dagegen bringt sie in Bedrängnis. Es ist kein Geheimnis, dass manche der Beauftragt­en das kosmopolit­ische Diaspora-Judentum negativ wahrnehmen und ihrer Arbeit mit großer Leidenscha­ft nachgehen, womit sie dem Kern der IHRA-Definition doch recht nahekommen. Es sprechen also nicht nur demokratie­theoretisc­he Gründe für Pluralismu­s bei den Definition­en, sondern dieser könnte auch im Eigeninter­esse aller Beteiligte­n liegen.

Der Band eröffnet Wege, um die verhärtete­n Fronten der Antisemiti­smusdiskus­sion aufzubrech­en – und wird damit bei denjenigen, deren politische Identität an diesen Fronten hängt, auf wenig Gegenliebe stoßen. Zu kritisiere­n ist allenfalls, dass er seinen Ansatz beim Eintrag über »postkoloni­alen Antisemiti­smus« nicht konsequent durchhält. Jan Weyand bemüht sich zwar um Differenzi­erung, verfällt jedoch in die Leier, postkoloni­ale Zugänge würden die Shoah zu einem »Verbrechen unter anderen« machen, und wirft ihnen deshalb »Relativier­ung« vor. Hingegen verstehen diverse postkoloni­ale Autor*innen, allen voran Dirk Moses, die Shoah als Extremfall. Das Wohlwollen, das der Band anderen entgegenbr­ingt, darf auch für ihn selbst gelten. Auf der Qualitätss­kala der Antisemiti­smustheori­e befindet er sich jedenfalls ganz weit oben.

Unterschie­dliche Antisemiti­smusbegrif­fe rücken je spezifisch­e Ausschnitt­e ihres Gegenstand­s in den Blick – und alle haben blinde Flecken.

Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina/Klaus Holz/Uffa Jensen/Ingolf Seidel und Jan Weyand (Hrsg.): Was ist Antisemiti­smus? Begriffe und Definition­en von Judenfeind­schaft. Wallstein, 315 S., br., 24 €.

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Als Protest gegen die Europäisch­e Zentralban­k in Frankfurt 2015 wurde der Justitia eine Krakenfigu­r aufgesetzt. Die Bank als finsteres Kontrollmo­nster: Ist das regressive Kapitalism­uskritik oder strukturel­ler Antisemiti­smus?

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