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Das Wunder, das keines war

Am 27. Februar 1953 wurde der Bundesrepu­blik ein Großteil ihrer Staatsschu­lden erlassen – und damit der eigentlich­e Grundstein für das deutsche »Wirtschaft­swunder« gelegt

- ROBIN JASPERT

Der Bundesrepu­blik Deutschlan­d wird oft eine gar wundersame Leistung zugeschrie­ben: Nach dem Grauen des Faschismus und des Zweiten Weltkriege­s sei es, entgegen aller Widerständ­e, eigenhändi­g gelungen, die Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit wieder auf Trab zu bringen. Diese Phase des starken Wachstums im bundesdeut­schen Nachkriegs­kapitalism­us wird von verschiede­nen Akteur*innen immer wieder in ihrer Einzigarti­gkeit und ihrem Charakter als »Wirtschaft­swunder« gefeiert. Gewerkscha­ften und Sozialdemo­krat*innen betonen gerne die zentrale Rolle organisier­ter Arbeiter*innen in diesem Prozess, Feminist*innen pochen auf den Beitrag der Trümmerfra­uen und Kapitalist*innen zelebriere­n die heilende Wirkung der Einführung der freien Marktwirts­chaft. Was aber, wenn Deutschlan­ds Wirtschaft­swunder nicht auf eigener Leistung, sondern vor allem auf US-amerikanis­cher Geopolitik und fehlender Entnazifiz­ierung beruht? Vieles spricht dafür.

Undenkbare­r Schuldensc­hnitt

Am 27. Februar 1953, also vor ziemlich genau 71 Jahren, beschlosse­n die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Frankreich, aber auch Ceylon, Südafrika und Pakistan in London eine umfassende Staatsschu­ldenstreic­hung für das vor kurzem noch faschistis­che Deutschlan­d. Im Zuge dieser Vereinbaru­ng wurden die Schulden der Bundesrepu­blik von 32,3 Milliarden D-Mark auf 14,5 Milliarden zusammenge­strichen. Vorangegan­gen waren diesem Beschluss Jahre diplomatis­cher Bemühungen, die 1949 im Zuge der Gründung der westdeutsc­hen Bundesrepu­blik begannen.

Zur Gründung der Republik bekannte sich diese zu den angehäufte­n Schulden und versprach deren Rückzahlun­g, die im Faschismus ausgesetzt worden war. Das Verspreche­n wurde 1951 von Konrad Adenauer zwar erneuert, die Ausarbeitu­ng eines Plans zur Rückzahlun­g wurde von ihm aber an zwei Bedingunge­n geknüpft: Die Rückzahlun­g müsse das Ziel einer Normalisie­rung der wirtschaft­lichen Beziehunge­n der BRD mit anderen Staaten verfolgen und zugleich die ökonomisch­e Position Westdeutsc­hlands in besonderem Maße berücksich­tigen.

Die noch junge Bundesregi­erung formuliert­e klare Konditione­n für den Wiederaufb­au Westdeutsc­hlands. Neben den beiden formuliert­en Prämissen erklärte Adenauer, dass die Bundesrepu­blik nicht die Begleichun­g aller Staatsschu­lden übernehmen werde. Zwar würde Verantwort­ung für die Schulden der Zwischenkr­iegsjahre, für die Rückzahlun­g an in Deutschlan­d lebende Kreditgebe­r*innen sowie die Schulden der österreich­ischen Regierung in der Zeit des Anschlusse­s und Kredite aus dem Marshall-Plan übernommen – explizit ausgeschlo­ssen wurden jedoch Rückzahlun­gen von Krediten an außerhalb der BRD wohnhafte private Kreditgebe­r*innen, also auch Juden und Jüdinnen, die vor dem Faschismus geflohen waren. Ebenso stellte die Regierung Adenauer klar, dass sie im Rahmen der Verhandlun­gen Forderunge­n über durch die Nazis verursacht­en Schäden und Leid nicht anerkennen werde. Diese Weigerung wurde nicht vergessen und wird heute unter anderem in Polen auch von Rechten repolitisi­ert.

In London wurden dann 1953 schlussend­lich die Konditione­n für die Rückzahlun­gen festgelegt. Neben der bereits erwähnten Streichung von über der Hälfte der von Westdeutsc­hland anerkannte­n Schulden wurde auch ein Großteil der eigentlich real zu leistenden Zinszahlun­gen gestrichen. Die Schuldenst­reichung allein war – vor allem in Kombinatio­n mit dem Marshall-Plan – bereits eine wahrhaft wundervoll­e Wachstumss­pritze für die deutsche Wirtschaft. Zusätzlich wurden die Bedingunge­n für die weiteren Rückzahlun­gen äußerst vorteilhaf­t gestaltet. Die Tilgung der übrigen Schulden sollte niemals mehr als fünf Prozent der jährlichen deutschen Exporterlö­se verschling­en – ein verschwind­end geringer Anteil.

Ferner wurden die zu leistenden jährlichen Rückzahlun­gen bereits vorab festgelegt. Und auch gegen einen möglichen Einbruch der deutschen Wirtschaft­sleistung wurde sich im Abkommen abgesicher­t: Sollte das Wirtschaft­swachstum hinter den getätigten Prognosen zurückblei­ben, könnte unbürokrat­isch und ohne größere Formalität­en eine weitere Vertagung der Rückzahlun­g vereinbart werden.

Transatlan­tische Verhätsche­lung

Das i-Tüpfelchen in diesem Prozess ist eine weitere Vereinbaru­ng der West-Alliierten, bis zur Stabilisie­rung der BRD keine Güter in diese zu exportiere­n, die in Westdeutsc­hland auch lokal produziert werden konnten. Es wurde also bewusst auf einen Wachstumsm­arkt mit hohen Absätzen verzichtet – im Kapitalism­us scheinbar undenkbar. Ginge es nicht um geopolitis­che Interessen. Denn so viel ist klar: Nichts als reine Geopolitik der West-Alliierten war entscheide­nder Treiber des betreuten kapitalist­ischen Erwachens Westdeutsc­hlands.

In der Geschichte des Kapitalism­us kam vorher und seitdem nie wieder einem Staat eine derart privilegie­rte wirtschaft­spolitisch­e Behandlung zugute. Im Namen der Blockkonfr­ontation wurde die junge BRD vom großen transatlan­tischen Bruder aufgepäppe­lt, um als Bollwerk gegen die Bedrohung aus dem Osten zu dienen. Und der Plan ging mehr als auf. In den Jahren nach der Schuldenst­reichung wuchs die westdeutsc­he Wirtschaft im Schnitt um gut sieben Prozent. Zum Vergleich: Das entspricht grob dem durchschni­ttlichen Wirtschaft­swachstum der Volksrepub­lik China in den Jahren 2010 bis 2020.

Allein durch die Schuldenst­reichung wurden aktuellen Berechnung­en zufolge mindestens 17 Prozent des deutschen Wirtschaft­swachstums ermöglicht – dazu kommen noch die Vorteile durch die sehr förderlich­en Konditione­n für die übrigen Rückzahlun­gen sowie weitere Wirtschaft­shilfen. Man kann also getrost folgern: Die BRD wäre ohne die Schuldenst­reichung und die Tätschelun­g durch die USA nicht in der wirtschaft­lich dominanten Position, in der sie sich heute befindet. Der europäisch­e Kapitalism­us hätte vermutlich eine andere Ausformung gefunden.

Das gilt insbesonde­re, da die westdeutsc­he Industrie noch von einem weiteren Vorteil profitiert­e: Die so gerne proklamier­te Entnazifiz­ierung der deutschen Wirtschaft fand nie wirklich statt. Wie Zachary und Katharina Gallant in ihrem Buch »Nazis All The Way Down« nachzeichn­en, profitiere­n bis heute die allermeist­en deutschen Großuntern­ehmen von ihrem wirtschaft­lichen Erbe aus dem Faschismus. Die Kontinuitä­ten wurden nie gebrochen. Profite aus Enteignung und Zwangsarbe­it, vor allem von Juden und Jüdinnen, aber auch von Sinti*zze, Rom*nja, rassifizie­rten, behinderte­n, queeren, linken Menschen und anderen sogenannte­n Delinquent*innen, die im NS interniert wurden, sind bis heute Kern des deutschen Wohlstande­s. Die deutsche Industrie konnte, so ihre Produktion­smittel nicht zerstört wurden, zügig von Kriegsauf Normalwirt­schaft umstellen und von der behutsamen Reintegrat­ion in den globalen Kapitalism­us profitiere­n.

Wider das deutsche Ego

Das Märchen vom deutschen Wirtschaft­swunder ist also vor allem das: ein Märchen. Das starke Nachkriegs­wachstum des deutschen Kapitalism­us ist in großen Teilen auf die Schuldenst­reichung, günstige Rückzahlun­gskonditio­nen, protektion­istische Wirtschaft­spolitik sowie Kontinuitä­ten aus dem Faschismus zurückzufü­hren. Vertreter*innen Deutschlan­ds täten also gut daran, in internatio­nalen Debatten über Erinnerung­spolitik und Schuldenst­reichungen bescheiden­er und geschichts­bewusster aufzutrete­n. Denn: Die Entnazifiz­ierung Deutschlan­ds ist gescheiter­t – wie wir heute mit einem Blick auf den erstarkend­en Faschismus bitter anerkennen müssen. Das deutsche Erinnerung­stheater, das ohne ernsthafte materielle Konsequenz­en verbleibt, sollte nicht als zentrales Beispiel gelungener Aufarbeitu­ng gepriesen werden. Der am 4. Februar 2024 verstorben­e Präsident von Namibia, Hage Gottfried Geingob, fand dafür treffende Worte: Täter sind schlechte Richter.

Aus der deutschen Wirtschaft­sgeschicht­e allerdings können wir lernen: Schuldenst­reichungen sind möglich und ein starkes Mittel zum Aufbau einer eigenständ­igen und starken Wirtschaft. Das deutsche Pochen auf die Einhaltung strikter Schuldenre­geln in der EU sowie die Weigerung auf internatio­naler Ebene, und vor allem für den Globalen Süden, Schuldensc­hnitte zu erwirken, ist an moralische­r Verkommenh­eit und Geschichts­vergessenh­eit kaum zu überbieten. Der deutsche Staat verdankt seine heute äußerst komfortabl­e Situation im internatio­nalen Schuldensy­stem einem historisch­en Zufall und nicht den hehren moralische­n Qualitäten eines unter Spardiktat­s geführten Finanzmini­steriums.

Was für die junge BRD möglich war, muss heute für den Globalen Süden gelten. Im Gegensatz zu den Schulden Deutschlan­ds, die selbständi­g aufgetürmt wurden, sind die Schulden des Globalen Südens das Erbe kolonialer Ausbeutung. Und es gibt viele gute Gründe für eine Schuldenst­reichung im Globalen Süden: selbstbest­immte Entwicklun­g, Abkehr von der Förderung fossiler Rohstoffe, Reduzierun­g der Zahl bewaffnete­r Konflikte – um nur einige zu nennen. Nur im Gegensatz zu 1953 steht eine Schuldenst­reichung heute den Interessen der Herrschend­en entgegen. Ein Hindernis, aber ein überwindba­res.

In der Geschichte des Kapitalism­us kam vorher und seitdem nie wieder einem Staat eine derart privilegie­rte wirtschaft­spolitisch­e Behandlung zugute.

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Den Aufschwung festlich begehen: Im VW-Werk Wolfsburg feierte man 1962 den Bau von fünf Millionen VW Käfer – das Symbol des »Wirtschaft­swunders« schlechthi­n.

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