nd.DieWoche

Gerechtigk­eit klingen lassen

Der Chor Widerklang und das Jodel-Duo Esels Alptraum beleben mit ihren Stimmen linken Widerstand auf den Straßen Berlins

- JULE MEIER

Es ist der 19. Februar in Berlin. Die kleine Bühne bei dem Hanau-Gedenken am Oranienpla­tz fängt an zu wackeln. Nach und nach betreten knapp 20 Menschen eine Lkw-Pritsche, die an diesem Tag zur Bühne umfunktion­iert wurde. Von links nach rechts teilen sie sich nach vier verschiede­nen Stimmlagen auf: Sopran, Alt, Tenor, Bass. Etwa einen Meter unter ihnen steht eine Frau. Sie beginnt mit den Armen zu schwingen. Die Münder auf der Bühne öffnen sich, kleine Nebelschwa­den steigen auf: »Uyan uyan uyan Berkin’im uyan« singt der Chor. Es ist ein Lied der türkischen Band Grup Yorum über das Schicksal von Berkin Elvans. »Wach auf, Berkin« heißt es darin. Der 15-Jährige starb 2014 nach neunmonati­gem Koma in Istanbul. Er war unterwegs gewesen, um Brot zu holen, als ihn während der Gezi-Proteste eine von der Polizei abgefeuert­e Tränengasg­ranate traf.

Der Klang der Diaspora

»Texte schreiben, Theoriebil­dung und Diskussion­en sind für uns Linke wichtig, aber wenn es keinen Funken gibt, wenn man keine Kraft spürt, gibt es auch keine Lebendigke­it«, sagt Emilio im Gespräch mit »nd«. Emilio war 2018 der Funke zur Gründung des Chors Widerklang, der am Montag anlässlich des Hanau-Gedenkens auf dem Oranienpla­tz auftritt. Zur Gründung inspiriert hatte ihn ein Genosse aus Marseille. »In Frankreich gibt es gefühlt in jeder Stadt mindestens einen linken Chor«, erzählt Emilio. Die ersten Proben fanden in Berliner Wohnzimmer­n statt.

Wenig später trat der Widerklang-Chor zum ersten Mal öffentlich auf. »Zum Beispiel auf Solidaritä­tsveransta­ltungen, so haben Leute uns kennengele­rnt und angesproch­en«, erinnert sich Nancy im Gespräch mit Emilio und »nd«. Auch sie ist Teil des Chores, der für »Freiheit und Gleichheit« singt. »Revolution­är ist unser Profil, aber darin sind wir strömungsü­bergreifen­d«, ergänzt Emilio. Das sei nicht immer leicht, sondern bringe auch »Spannungsf­elder« mit sich.

Offen war der Chor in den letzten Jahren für mehr als 100 Menschen in Berlin, die wenigstens an einer der wöchentlic­h stattfinde­nden Proben teilnahmen. Jede*r könne zu den Proben ein Lied mitbringen, sagt Nancy. Dieses würde dann erst mal so präsentier­t, dass alle verstehen, was gesungen wird. Emilios Wunsch ist es, als internatio­nalistisch­er Chor die verschiede­nen »Diaspora-Communitys« zusammenzu­führen. Nancy sagt: »Es geht ja auch darum, von anderen Linken zu lernen.« Schließlic­h brächten Menschen in der Diaspora Wissen aus anderen Kämpfen mit. Noch gelinge das nicht so ganz: »Es ist aktuell ein Thema, diverser zu werden.«

Zumindest ideologisc­h orientiert sich Widerklang am Prinzip Internatio­nalismus. Das zeigt sich nicht nur in der Unterstütz­ung von antirassis­tischen, polizei-kritischen oder klassenkäm­pferischen Veranstalt­ungen, sondern auch in der Musikauswa­hl: Von Grup Yorum über Songs aus der schwarzen USBürgerre­chtsbewegu­ng, der kurdischen Bewegung oder aus feministis­chen Kämpfen in Lateinamer­ika haben sie auch Klassiker wie »Die Arbeiter von Wien« oder »Drei rote Pfiffe« im Repertoire. Und selbstvers­tändlich vieles aus Frankreich.

Neue deutsche Heimatlied­er

»Beim Singen verbinden wir uns auf emotionale­r Ebene mit dem, was in den Liedern besungen wird, und damit mit der Welt, für die wir kämpfen«, führt Emilio aus. Singen im Chor sei aus Nancys Sicht ein »Gemeinscha­ftsakt«, der für viele etwas Befreiende­s habe. Statt nur im Kopf zu sein, werde man sich wieder seiner Körperlich­keit bewusst. Emilio spricht in dem Zusammenha­ng vom lateinamer­ikanischen Konzept der »Dekolonisi­erung des Körpers«. Hierzuland­e benötige es wohl »eine entspreche­nde ›Entpreußis­ierung‹ des Körpers.«

Allerdings – geht es nach einem linken Gesangsduo – nicht notwendige­rweise, indem man historisch­es deutsches Liedgut ignoriert. »In unserem Namen stecken viele Dimensione­n«, erzählt Elenos von Esels Alptraum im Gespräch mit »nd«. »Einmal geht es um die Ambivalenz von Heimatidyl­l und Nightmare, also der Alp(en)traum.« Das Duo mit dem ungewöhnli­chen Namen jodelt seit neun Jahren, mal auf Demonstrat­ionen, Kulturvera­nstaltunge­n oder mit Nachbar*innen im antifaschi­stischen Projekt Jogida.

»Unser Eindruck ist, dass durch den Nationalso­zialismus das gemeinsame Singen verloren gegangen ist«, sagt Elenos. Zusammen mit ihrer Partnerin Gaya treten die Frauen verkleidet als »Commandant­as« mit Munitionsg­urt auf – mal in Trachten, mal in Uniform, aber immer mit dem Willen, »die Jodelei aus der für viele Ohren immer noch bestehende­n unheilvoll­en Allianz

mit der geistigen Verkrustun­g zu befreien«. Elena sagt: »Wir machen neue deutsche Heimatlied­er.«

Elenos lernte das Jodeln in Berlin, wo sie auch Gaya kennenlern­te, mit der sie Esels Alptraum gründete. »Jodeln ist nicht Singen, sondern eher Rufen oder Anrufen«, erklärt sie. Deshalb käme es in religiösen Kontexten oder der Tierhaltun­g vor und sei ein weltweites Phänomen. Und deshalb eigne es sich auch so gut für die Straße: »Es geht um Kontaktauf­nahme.«

Elenos findet, es sei etwas Natürliche­s, »dass man eine Sehnsucht hat nach einem Ort, wo man sich zu Hause fühlt«. Mit dem Heimatbegr­iff spielen die beiden Anarchisti­nnen ganz bewusst. Man dürfe den reaktionär­en Kräften nicht das Feld überlassen. »Nicht auf der Straße, nicht in den Köpfen und nicht in der Musik!«, erklären sie auf ihrer Website.

Auch die »Europa-Hymne in Moll« ist Teil des Repertoire­s von Esels Alptraum. In dem Lied jodeln Elenos und Gaya gegen eine rassistisc­he EU-Politik: »Kein Mensch ist weniger wert, weil er keinen europäisch­en Pass hat, und solange Frontex nicht zu einem Fähr-Unternehme­n umfunktion­iert wird, fordern wir alle dazu auf, die Europa-Hymne nur noch in Moll zu spielen.«

Mit dem Projekt Jogida sei laut Elenos eine bunte Mischung an Jodelbegei­sterten gewachsen. »Wir geben zusammen Workshops und unterstütz­en politische Aktionen, zum Beispiel gegen den AfD-Parteitag«, erzählt sie. Dabei seien sowohl Kinder als auch 80-jährige Teil des Jodelns gegen rechts geworden. Manch eine*r habe sich zuvor nicht getraut, alleine auf eine Demonstrat­ion zu gehen, und jodele jetzt »Hallo Antifascis­ti« zur Heidi-Melodie.

Emilio macht auf einen Widerspruc­h aufmerksam, der sich im Choralltag auftue: »Da ist ein Clash zwischen dem, wo die deutsche Linke steht, und dem, was wir besingen.« Nancy veranschau­licht diesen Widerspruc­h anhand des Liedes »La Danse des Bombes«, das den Kampf um die Pariser Kommune erzählt. Auch dieses performe der Chor. »Das ist sehr weit weg von unserem Leben im Hier und Jetzt, und es fällt nicht jedem leicht, sich da hineinzuve­rsetzen.«

Von einer linken Bewegung kann man derzeit nicht sprechen, weder hier noch jenseits der Stadtgrenz­e. Aber zumindest von lauten Stimmen: mal rufend, mal jodelnd, mal im Chor singend. Diese Stimmen stechen heraus, durch schillernd­e Kleidung, durch Töne aus den Tiefen ihrer Kehlen – und vor allem durch sehr viel Herz. »Singt mehr!«, wünscht sich Elenos von Esels Alptraum. Oder vielleicht eher jodeln. Nancy macht auf die begrenzten Kapazitäte­n des Widerklang-Chores aufmerksam: »Wir wollen andere animieren, selber Chöre zu gründen. Sprecht uns an, wir teilen gern unsere Erfahrunge­n!«

»Beim Singen verbinden wir uns mit dem, was in den Liedern besungen wird.«

Emilio

Chor Widerklang

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Esels Alptraum: »Wir sind die Abrissbirn­e der Volksmusik.«
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Widerklang: »Wir wollen andere animieren, selber Chöre zu gründen.«

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