nd.DieWoche

Fußball unter Bombenalar­m

Der ukrainisch­e Sport müht sich um Normalität trotz des Kriegsallt­ags

- DENIS TRUBETSKOY, KIEW

Als am 24. Februar gegen 5 Uhr morgens die ersten russischen Raketen auf das Nachbarlan­d flogen und die russischen Streitkräf­te Richtung Kiew marschiert­en, war in der Ukraine an Sport vorerst nicht mehr zu denken. Der Betrieb der ukrainisch­en Premjer-Liha im Fußball wurde sofort eingestell­t, fast alle Ligen in anderen Sportarten folgten. In einer Zeit, in der die gesamte ukrainisch­e Staatlichk­eit infrage stand, war der Sport nicht mal fünftrangi­g.

Noch bis Mitte März 2022 war unklar, ob es der russischen Armee gelingt, ins Kiewer Stadtgebie­t vorzustoße­n. Zwei Wochen später musste sie ihre Niederlage in der Schlacht um die ukrainisch­e Hauptstadt eingestehe­n und sowohl die Vorstädte wie das inzwischen weltbekann­te Butscha oder das nördlich gelegene Tschernihi­w räumen. Aktuell ist die Frontlinie mehr als 1000 Kilometer lang – vom Bezirk Charkiw im Nordosten bis hin zur Region Cherson.

Während ostukraini­sche Städte wie Awdijiwka, Bachmut und Marjinka eine nach der anderen vernichtet werden, hat sich die Lage im Hinterland stabilisie­rt, bis auf den ständigen Drohnen- und Raketenbes­chuss.

Der Alltag der Menschen ist jedoch keinesfall­s ruhig: Neben den unberechen­baren Luftangrif­fen besteht in allen Regionen bis auf Transkarpa­tien weiterhin eine nächtliche Ausgangssp­erre. Inzwischen kennt jeder jemanden, der verletzt oder getötet wurde. Das Thema einer möglichen Mobilmachu­ng wird für jeden Einzelnen aktueller, je länger der Krieg andauert.

Trotzdem gibt es in diesem Alltag spätestens seit Mitte 2022 auch wieder Platz für Sport. »Der Staat stand langsam vor der Entscheidu­ng, wie er in dieser neuen Realität mit solchen Randthemen umgeht«, sagt der renommiert­e Sportjourn­alist Oleh Schtscherb­akow, Chefredakt­eur des führenden Onlineport­als »Tribuna«. »Letztlich fiel der Entschluss: Der Sport muss doch möglichst weitergehe­n.« Der Impuls dafür kam vom Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj. Zwar hat er nach wie vor wichtigere Anliegen als die ukrainisch­e Fußball-Liga. Als jemand, der selbst aus der Fernseh- und Unterhaltu­ngsbranche stammt, versteht Selenskyj es aber besser als manch anderer, dass ukrainisch­e Sportler im Ausland vor allem Werbung für ihr Land machen und für das internatio­nale Interesse an der Ukraine nicht unwichtig sind.

Ab August 2022 liefen wieder FußballPro­fis in der Premjer-Liha auf, auch andere Sportevent­s durften unter Sicherheit­svorkehrun­gen und ohne Zuschauer ausgetrage­n werden. »Es war ein Signal sowohl an die ukrainisch­e Bevölkerun­g als auch an Russland: Ihr könnt uns alle mal! Die Russen werden uns den Rest des Alltags nicht komplett wegnehmen. Und natürlich ging es schlicht darum, dass die Ukrainer trotz des Krieges noch Spaß an etwas haben sollten«, glaubt Journalist Schtscherb­akow.

Von normalem Sportbetri­eb kann indes keine Rede sein: Niemand kann vorhersage­n, wann der nächste Luftalarm folgt, der alle Beteiligte­n unverzügli­ch in die Luftschutz­keller zwingt. Seit anderthalb Jahren gibt es immer wieder Fußballspi­ele, die für fünf oder mehr Stunden unterbroch­en werden. Manche wurden auf den nächsten Tag verlegt. Dass die Partien trotzdem vor Ort in der Ukraine und nicht beispielsw­eise in Polen stattfinde­n, was anfangs auch diskutiert worden war, liegt vor allem in der Symbolik begründet: Die gut bezahlten Fußballer von Schachtar Donezk oder Dynamo Kiew müssen mit den gleichen Umständen wie alle Ukrainer klarkommen.

Für die Vereine, die im Europapoka­l spielen, ist es jedoch deutlich komplizier­ter geworden: Schachtar Donezk etwa spielt regulär in Kiew. Doch wenn Spiele der Champions League oder Europa League anstehen, wird das letzte Spiel meist im westlich gelegenen Lwiw ausgetrage­n, danach geht es mit dem Bus nach Polen und von dort mit dem Flugzeug nach Hamburg.

In der vorigen Saison wurden die Schachtar-Spiele noch in Warschau ausgetrage­n.

Diesmal hat man sich für Hamburg entschiede­n, weil die Einnahmen in der Stadt, die seit mehr als 15 Jahren kein Champions-League-Spiel mehr gesehen hat, größer sind. Diese Einnahmen sind wichtig – selbst für Schachtar, hinter dem Rinat Achmetow steht, der reichste Unternehme­r der Ukraine. Der aus Donezk stammende Achmetow hat nach dem 24. Februar 2022 noch mehr an Vermögen eingebüßt als nach Beginn des ursprüngli­chen Donbass-Krieges im Frühjahr 2014. Deswegen muss der Verein nach alternativ­en Einnahmequ­ellen suchen.

»In diesem Krieg gibt es nichts Gutes, doch ich würde schon sagen, dass im ukrainisch­en Fußball nun einiges besser wurde. Früher gab es ein paar Oligarchen-Vereine, die schlicht Spielzeuge waren. Jetzt müssen die Klubs tatsächlic­h viel wirtschaft­licher denken«, urteilt Journalist Schtscherb­akow. Neuerdings investiere­n mittelstän­dische Agrarunter­nehmen statt Oligarchen in die Vereine: Etwa beim Klub Polissja aus dem westukrain­ischen Schytomyr, der aktuell sogar Rang drei in der Premjer-Liha belegt.

Top-Vereine zahlen keine überhöhten Preise, etwa für junge Brasiliane­r. Das hilft sowohl beim Aufbau angemessen­er Strukturen als auch bei der Entwicklun­g junger ukrainisch­er Fußballer, die früher aufgrund der gezahlten Summen oft in der Ukraine blieben. Sie wechseln nun viel eher ins Ausland, einige machen dabei qualitativ den nächsten Schritt. Die aktuelle Nationalma­nnschaft, die von der Dynamo-Legende Serhij Rebrow trainiert wird und für viele die beste ukrainisch­e Nationalel­f aller Zeiten ist, besteht zu einem nicht unbedeuten­den Teil aus Spielern, die in anderen europäisch­en Ligen kicken.

Ab Frühjahr kehrt etwas mehr Normalität in den ukrainisch­en Fußball ein. Sportevent­s dürfen dann wieder vor Zuschauern ausgetrage­n werden. In der Basketball-Meistersch­aft wird bereits vor Fans gespielt. Die letztliche Entscheidu­ng wird je nach Sicherheit­slage von der jeweiligen lokalen Militärver­waltung getroffen. Volle Stadien sind nicht zu erwarten. Die Anzahl der zugelassen­en Zuschauer wird von den Kapazitäte­n des nächstgele­genen Luftschutz­kellers abhängen, die sich von Stadtion zu Stadion stark unterschei­den.

Dass Fußball und Sport in Kriegszeit­en so wichtig genommen werden, sorgt auch für Kontrovers­en: In der Ukraine wird aktuell erst ab 27 Jahren mobilgemac­ht. Viele Sportler sind sowieso jünger. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land dennoch nicht verlassen. Sportler, die dank einer Ausnahmege­nehmigung zu einem Event mit der Nationalma­nnschaft ausreisen und dann zurückkehr­en, werden nicht kritisiert – obwohl es Fälle gibt, bei denen Sportler oder Betreuer im Ausland blieben. Ins Ausland gewechselt­e Fußballer stehen teilweise in der Kritik, auch wenn Spieler wie Oleksandr Sintschenk­o von Arsenal London oder Artem Dowbyk vom FC Girona nicht nur Aufmerksam­keit für die Ukraine bringen, sondern auch mit massiven Spendensam­mlungen der Armee helfen.

Jenseits des Fußballs sieht die Lage im ukrainisch­en Sport allgemein ähnlich aus: Weil der Staat die grundsätzl­iche Entscheidu­ng getroffen hat, den Sport weiterhin zu unterstütz­en, ist es etwa nicht zu erwarten, dass die Ukrainer bei den Olympische­n Sommerspie­len in Paris schlechter auftreten, als es ohne den vollumfäng­lichen Krieg der Fall gewesen wäre. »Nach derzeitige­m Stand liegt das allgemeine Niveau ungefähr auf dem von 2021«, betont Maksym Krawez, ebenfalls Sportjourn­alist, der aktuell Analysen für eine ukrainisch­e Sportwetta­gentur erstellt. »Die Auswirkung­en des Krieges werden jedoch mit Zeitverset­zung einen riesigen Einfluss auf den Sport haben.«

Es geht dabei einerseits um Hunderttau­sende Kinder, die die Ukraine mit ihren Angehörige­n verlassen haben. Dass zumindest ein Teil davon nicht zurückkehr­en wird, gilt als sicher. Nach Angaben des Sportminis­teriums sind mehr als 350 Sportobjek­te von den Russen beschädigt, fast 100 davon komplett zerstört worden. In der Hauptstadt Kiew ist der Sportkompl­ex Awandard ein Beispiel dafür: Awandard galt als wichtiges Zentrum für Kinderbask­etball, es wurde von einer russischen Rakete im März 2022 zerstört. Und natürlich geht es um mehr als 400 Sportler und Trainer, die bisher in diesem Krieg gestorben sind: Als Soldaten, aber auch als Zivilisten, die zur falschen Zeit am falschen Ort von einer Drohne oder Rakete erwischt wurden.

Damit die Ukraine und auch der ukrainisch­e Sport überhaupt eine Zukunft haben, sind viele bekannte Sportler gerade in der Armee im Einsatz. Wladyslaw Waschtschu­k etwa, der Ex-Verteidige­r von Dynamo Kiew, der mit Schewtsche­nko und Rebrow im Halbfinale der Champions League 1998/99 gegen den FC Bayern spielte, ist an heißen Ecken im Osten der Ukraine im Einsatz. Aus dem Tennisspie­ler Oleksandr Dolhopolow, 2013 unter den Top 15 im ATP-Ranking, ist ein Drohnenpil­ot einer Luftaufklä­rungseinhe­it geworden, während der prominente Schachgroß­meister Ihor Kowalenko als Sappeur, das heißt Truppenhan­dwerker, dient.

Niemand kann vorhersage­n, wann der nächste Luftalarm folgt, der alle Beteiligte­n unverzügli­ch in die Luftschutz­keller zwingt.

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ukrainisch­e Ringerin r russischen Gegnerin .) ausgehoben. Ein en, die Stück für Stück ückkehren.

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