Größer? Erfolgreicher? Politischer!
Deutsche Gewerkschaften verzeichneten 2023 ein leichtes Mitgliederplus. Das allein bedeutet noch keine Erneuerung
Zunächst die guten Nachrichten: Erstmals seit der Jahrtausendwende, genau genommen seit 2001, haben die deutschen Gewerkschaften ein Mitgliederplus zu verzeichnen, 0,4 Prozent im Jahr 2023. Auch in anderen Ländern scheint es bergauf zu gehen: In den USA etwa wird so viel gestreikt wie seit den 70er Jahren nicht mehr – was sich allerdings nicht in Mitgliederzuwächsen bei den US-Gewerkschaften niederschlägt.
Bescheidenes Mitgliederwachstum
Das Phänomen lässt sich vielerorten beobachten: Das Vertrauen in Gewerkschaften ist verglichen mit dem zu anderen Institutionen wie Medien, Parteien, Staat, teilweise selbst den Kirchen (mit Ausnahme der ehemaligen und aktuellen staatssozialistischen Gesellschaften) traditionell sehr hoch, in entsprechenden Mitgliederzahlen schlägt sich das jedoch nicht nieder. Das relative Mitgliederhoch der DGB-Gewerkschaften lässt sich denn auch reduzieren auf 193 000 neue Verdi-Mitglieder sowie Zuwächse bei GEW, NGG und der Gewerkschaft der Polizei (GdP).
Verdi profitiert von den Arbeitskämpfen 2023, als im Einzelhandel, bei der Post und im öffentlichen Dienst gestreikt wurde, sowie von den Organizing-Bemühungen der Initiativen für einen studentischen Tarifvertrag (TVStud) und der Krankenhaus-Kampagne in Nordrhein-Westfalen 2022. So sind 50 000 der neuen Verdi-Mitglieder unter 28 Jahre alt. Der GdP, die aufgrund des Beamtenstatus und der Struktur der Polizei kaum klassisch gewerkschaftlich tätig ist, kommen der Ausbau des Polizeiapparats und ihre Funktion als Berufsstandslobby zugute. Ihre autoritären und konservativen Verlautbarungen sowie ihre Relativierungen der Polizeigewalt dürften ebenfalls zum Wachstum der GdP beitragen. Diese Mitgliedergewinne kompensieren die Verluste der anderen Gewerkschaften.
Doch Mitgliederzahlen sind das eine. Weit wichtiger sind die Kerntätigkeiten der Gewerkschaften sowie ihre Erfolge, kurz die Tarifrunden, Streiks und deren unmittelbare Auswirkungen. Auch hier lässt sich zunächst konstatieren: Die Gewerkschaften haben angesichts historisch hoher Inflationswerte entsprechend hohe, teilweise zweistellige Lohnerhöhungsforderungen gestellt, und das nicht selten erfolgreich. 3000 Euro Inflationsprämie, eine Nettosumme ohne entsprechende Garantien für beständige Löhne und Sozialund Gesundheitsabsicherung, sind tarifpolitisch zwar bedenklich, sorgen aber für Mitgliederzufriedenheit.
Relativiert wird der Erfolg der jüngsten Tarifverhandlungen auch durch den Umstand, dass nach 75 Jahren Tarifvertragsgesetz nur noch 51 Prozent der Arbeitenden tariflich absichtlich gesichert sind (in den ostdeutschen Bundesländern sind es sogar nur 45 Prozent). Hinzu kommen langwierige Konflikte oder solche, die langwierig zu werden drohen, wie im Einzelhandel, bei Amazon oder bei Tesla. Tesla könnte dabei das Amazon der IG Metall werden – ein langjähriger Konflikt ohne konkretes Ergebnis. Und durch Konflikte in neuen Industrien wie der Intel-Fabrik in Magdeburg könnten sich für die IG Metall noch mehr problematische Felder eröffnen.
Offensichtlich ist aber andererseits: Trotz Streik-Bashings in den Medien und immer wiederkehrender Forderungen nach Einschränkungen des Streikrechts von Seiten der konservativen Parteien – manchmal auch von Grünen wie Robert Habeck, der meinte, so viele Streiks könnten »wir« uns nicht leisten – wächst die Akzeptanz von und das Verständnis für Streiks. Das gilt auch für berufsständische Arbeitsniederlegungen wie die der GDL oder für Streiks, deren Legalität angezweifelt wird, wie die der Fahrer*innen des Lieferdienstes Gorillas 2021 oder der Lkw-Fahrer an der Raststätte Gräfenhausen im vergangenen Frühjahr. Nichtsdestotrotz: Selbst gestreikt hat in Deutschland nur eine verschwindend geringe Minderheit der Arbeitnehmer*innen.
Interne Differenzen
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen und des Tarif- und Streikgeschehens zeigt eine Tendenz auf, wie wir sie auch aus anderen Staaten kennen: In Griechenland oder
Frankreich etwa, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedriger ist als in Deutschland, besitzen Gewerkschaften nur noch im öffentlichen Dienst und, deutlich geringer, im Dienstleistungssektor Handlungsmacht. »Generalstreiks« wie am 17. März in Griechenland sind in diesen Ländern Minderheitenveranstaltungen eines Milieus, das wir traditionell (und möglicherweise falsch) nur selten als »Arbeiter*innen« verstehen.
Es ist nicht alles schlecht in der geschrumpften Arbeiterbewegung. Einer großen Erneuerung stehen aber nicht nur Staat und Kapital, sondern auch interne Differenzen im Weg: Im organisatorischen Sinne ist das vor allem die Differenz zwischen der alten, sozialpartnerschaftlichen Verhandlungsgewerkschaft und dem Modell der konfliktorientierten OrganizingGewerkschaft. Auch das ist nicht neu: Den entsprechenden »Doppelcharakter« der Gewerkschaften hatten gewerkschaftsnahe Intellektuelle wie Rainer Zoll und Eberhard Schmidt schon in den 70er Jahren konstatiert. Dass die größten Gewerkschaften Deutschlands ihr Engagement in Sachen Organizing allerdings deutlich reduzieren – Verdi vertraut seit einigen Jahren fast nur noch auf externe Organizing-Firmen und die IG Metall hat jüngst die Abteilung Organizing beim bundesweiten Vorstand geschlossen –, lässt wenig Hoffnung für eine neue Basisorientierung aufkeimen.
Im politischen Sinne leidet die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland darüber hinaus unter zahlreichen Konflikten: Bis weit in die Gewerkschaftslinke hinein tun sich politische Gräben auf, begonnen mit der Frage nach der Beurteilung der Corona-Maßnahmen über die Beurteilung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und, damit verbunden, der Scholz’schen »Zeitenwende« sowie westlicher und insbesondere deutscher Aufrüstungspolitik (oder »Ausrüstungspolitik«, wie es der zweite Vorsitzende der IGM Jürgen Kerner ausgedrückt hat) bis hin zur – besonders sensiblen – Beurteilung der israelisch-palästinensischen Konfrontation.
Sympathien für die AfD
Vor allem wird, was inhaltlich damit verbunden, aber keineswegs identisch ist, die autoritäre und rechtspopulistische Entwicklung in der Gesellschaft zu einem internen Problem der Gewerkschaften: Von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften wird die AfD überdurchschnittlich häufig gewählt. Bei der Kommunalwahl in Bayern wählten 18 Prozent der Gewerkschafter*innen (insgesamt 14,6) die AfD, bei den Wahlen in Hessen waren es 21 Prozent (insgesamt: 18,4). Längst sind die Zeiten vorbei, in denen man sich lediglich gegen rechtsextreme Betriebsratslisten des »Zentrums« in der Automobilindustrie zur Wehr setzen musste. Die Frage lautet
Sozialpartnerschaftlicher ArbeitnehmerADAC oder konfliktorientierte OrganizingGewerkschaft?
mittlerweile vielmehr, inwieweit ein entsprechendes Denken – und vermehrt: Reden und Handeln – auch in der Basis der Gewerkschaften Usus wird. Die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux haben bereits vor 20 Jahren am Beispiel Peugeot in Nordfrankreich eine seltsame Ambivalenz analysiert: Die Arbeiter*innen wählten bei Betriebsratswahlen kommunistisch, in politischen Wahlen aber stimmten sie für den rechtsextremen Front National (heute Rassemblement National). Die politische Stimmung der Mitgliederbasis tangiert dabei auch Kernbereiche gewerkschaftlicher Arbeit, etwa die Kampagne #wirfahrenzusammen von Verdi mit der Klimabewegung Fridays for Future zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs oder auch die Frage, wie sich die IG Metall zu den Protesten gegen die Fabrikerweiterung von Tesla in Grünheide verhält.
Seine parteipolitische Neutralität droht dem DGB dabei auf die Füße zu fallen: Einerseits ist sie theoretisch gesehen völlig plausibel: Arbeiter*innen können sich gegen die stärkere Macht der Unternehmen in einem asymmetrischen Konflikt nur gemeinsam zur Wehr setzen, das heißt, sie müssen politische Differenzen beiseite lassen. Andererseits ist die soziale Funktion von Gewerkschaften ganz prinzipiell gefährdet, wenn sozialpolitische Grundpositionen – die zu Migration und Geschlechterverhältnissen nicht minder bedeutend sind als zum Kapitalverhältnis – von der Basis in Frage gestellt werden. Eine klare, auch praktische Positionierung gegen rechtsautoritäre Tendenzen ist dabei eben keine politische Parteinahme, sondern grundsätzliches Eigeninteresse der Gewerkschaften.
Das zentrale Motto der Gewerkschaften zum 1. Mai 2024 ist deshalb, sagen wir mal, mager. Die Losung »Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit« laviert sich nicht nur um sämtliche gesellschaftlichen, sondern auch um sämtliche gewerkschaftlichen Konflikte herum: Denn mehr Lohn und mehr Freizeit, so richtig wie immer, ist einfach nur die Legitimationsgrundlage aller Gewerkschaften seit Bestehen der Arbeiterbewegung. »Mehr Sicherheit« mag sozioökonomisch gemeint sein – bedient aber auch einen letztlich autoritären Diskurs: noch mehr Mitglieder für die GdP.
Bislang konnte man damit kalkulieren, dass sich rechte Positionierungen in den Gewerkschaften vor allem bei passiven Mitgliedern finden, für die der DGB eine Art Arbeits-ADAC ist. Streiks, die man etwa gemeinsam mit migrantischen Kolleg*innen führt, und das daraus resultierende gewerkschaftliche Engagement sollten gegen rechtes Denken immunisieren oder dieses ad absurdum führen. Immer mehr Indizien weisen aber darauf hin, dass dieser Zusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Praxis und ideologischem Grundprinzip kein Automatismus ist. Es geht kein Weg daran vorbei: Auch wenn es eigentlich der Grundidee einer parteiübergreifenden »Partei der Arbeit« (Émile Pouget) widerspricht, müssen die Gewerkschaften notwendig politischer – oder politisch eindeutiger – werden.
Torsten Bewernitz ist Redakteur bei »Express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit« und lehrt im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Für Die Linke kandidiert er am 9. Juni für den Stadtrat von Mannheim.
lien nach wie vor beeinträchtigend auswirken können.
Es gab nach der Wende hohe Arbeitslosenzahlen im Osten, kaum Tarifverträge oder Betriebsräte. Ist das Arbeitsrecht da an seine Grenzen gestoßen?
Ja, praktisch und faktisch. Die Folgen sehen wir noch heute. Im kollektiven Arbeitsrecht ist es leider nicht gut gelungen, die Sozialpartnerschaft und die Bildung von Betriebsräten in einer Weise zu fördern, die den westdeutschen Standards entspricht. Das bedauere ich zutiefst. Es ist wirklich schwierig, dass es in den fünf sogenannten neuen Ländern so wenige Betriebsräte und eine viel zu geringe Tarifbindung gibt. Ich schätze den Begriff der neuen Länder aber ehrlich gesagt nicht.
zwischen Beschäftigten und Unternehmen um, das ja auch für den Kapitalismus kennzeichnend ist?
Die Arbeitgeber*innenseite kann erhebliche Mittel für wissenschaftliche Institute, Rechtsberatungseinheiten, Zeitschriften, Gutachten und Aufsätze aufwenden. Ich habe aber den Eindruck, dass auch die Gewerkschaftsseite mit wissenschaftlichen Instituten, Rechtsberatungseinheiten, Zeitschriften und Aufsätzen sehr gut aufgestellt ist. Die Sozialpartner handeln wissenschaftlich völlig auf Augenhöhe. Ich selbst versuche, mit beiden Seiten im Diskurs zu stehen.
Wie sieht das konkret aus?
Ich versuche immer, die Texte beider Seiten wahrzunehmen. Das heißt, wenn ich eine klare arbeitgebernahe Veröffentlichung lese, lese ich auch eine der Gewerkschaftsseite. In den Texten werden ja häufig sehr unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Interessen aufgearbeitet. Ich schätze Tagungen, auf der alle Bänke des Arbeitsrechts vertreten sind, also Sozialpartner, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Lehrende, Studierende, Richterinnen und Richter. Ich suche aber auch einzeln und gleichmäßig das Gespräch mit den Sozialpartnern. Wenn ich zum Beispiel bei der IG Metall spreche, gehe ich wenige Tage oder Wochen später zu Gesamtmetall oder umgekehrt.
Wie bewerten Sie die aktuelle Debatte über das Streikrecht, die auch von den Unternehmensverbänden in Gang gesetzt wurde?
Hinter dem Tarifvertragsrecht steht letztlich immer das Druckmittel des Arbeitskampfs, beispielsweise in Form von Streiks. Und unabhängig von der aktuellen Diskussion hat dieses Freiheitsrecht aus meiner Sicht gute Arbeit geleistet. Wir alle haben die GDL-Streiks oder die Streiks der Flugsicherheitskräfte erlebt. Die Streiks haben uns ermüdet. Streiks zum Beispiel in den Sektoren der Mobilität, der Gesundheitsversorgung oder der Kinderbetreuung sind nicht nur für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, sondern auch für die betroffenen Dritten beeinträchtigend und unpraktisch. Aber das Arbeitskampfrecht dient ja dazu, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weiterzuentwickeln. Und ich finde, das hat in der Geschichte der Bundesrepublik gut funktioniert. Schauen Sie auf Deutschland: Da wurde im europäischen Vergleich über Jahrzehnte sehr selten gestreikt. Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union hingegen kennen auch Generalstreiks, also politische, nicht unmittelbar tarifbezogene Streiks. In Frankreich wurde in jüngerer Vergangenheit beispielsweise für den Erhalt des Rentensystems
gestreikt. Unsere Arbeitskampfregeln in Deutschland sind nach Ansicht der deutschen Rechtsprechung enger. Streiks für Tarifverträge oder bessere Tarifverträge sind möglich, Streiks gegen die politischen Rahmenbedingungen nicht.
An dieser Trennung zwischen politischen und tarifbezogenen Streiks gibt es allerdings auch Kritik, beispielsweise von Theresa Tschenker.
Ja, die These lautet, dass ein politischer Streik erlaubt ist, wenn er auf ein rechtmäßiges politisches Ziel gerichtet ist, das einen Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hat. Dabei geht es auch um die Kontroverse zwischen Wolfgang Abendroth und Ernst Forsthoff in den 1950erJahren. Man kann das damals für die Arbeitgeber*innenseite verfasste Gutachten von Forsthoff so verstehen, dass Bürger*innen nur bei Wahlen Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollten. Ein politischer Streik wäre dann ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Auch der spätere erste Präsident des BAG Hans Carl Nipperdey hatte sich in einem Gutachten gegen die Rechtmäßigkeit politischer Streiks ausgesprochen. Die Gegenansicht von Abendroth, der das Gutachten für den DGB verfasst hatte, konnte sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzen. Allerdings hat das BAG in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2002 und 2007 mit Blick auf völker- und menschenrechtliche Garantien zweimal die Frage des Verbots politischer Streiks mit Bezügen zu den Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen berührt.
»Nach der Wende ist das Arbeitsrecht im Osten praktisch und faktisch an seine Grenzen gestoßen.«
Inken Gallner Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts