nd.DieWoche

Kontinuitä­t ohne Charisma

Die Linke Claudia Sheinbaum geht als Favoritin in das Rennen um die Präsidents­chaft in Mexiko

- TOBIAS LAMBERT

Als Andrés Manuel López Obrador mit seinem Mitte-links-Projekt in Mexiko 2018 im dritten Anlauf die Präsidents­chaftswahl gewann, schien er spät dran zu sein. In den meisten Ländern Lateinamer­ikas war die Regierungs­linke damals vorübergeh­end auf dem Rückzug oder befand sich in der Krise. Sechs Jahre später scheint Mexiko erneut einem verbreitet­en politische­n Trend zu trotzen. Anders als in vielen Ländern der Region greifen keine rechten Hardliner à la Trump, Bolsonaro oder Milei nach der Präsidents­chaft. Würde die mexikanisc­he Verfassung eine Wiederwahl erlauben, könnte AMLO, wie Präsident López Obrador nach seinen Initialen genannt wird, mit einem hohen Sieg rechnen. Und auch wenn ihm Gegner*innen nicht zu Unrecht vorwerfen, die Nationale Wahlbehörd­e (INE) zu seinen Gunsten zu beeinfluss­en, hat López Obrador keine Anstalten unternomme­n, sich über die bestehende Mandatszei­tbegrenzun­g hinwegzuse­tzen.

Sheinbaum liegt klar in Führung

Trotzdem stehen die Zeichen bei der Wahl in drei Wochen auf Kontinuitä­t. Am 2. Juni stimmen fast 100 Millionen Wahlberech­tigte über die Präsidents­chaft, die beiden Parlaments­kammern, Gouverneur­sposten in neun Bundesstaa­ten sowie Regionalpa­rlamente und Ämter auf kommunaler Ebene ab. Seine Popularitä­t versucht López Obrador auf Wunschnach­folgerin Claudia Sheinbaum zu übertragen. Die frühere Bürgermeis­terin von Mexiko Stadt tritt für die regierende Morena-Partei (Bewegung zur Nationalen Erneuerung) im Bündnis mit der Arbeiterpa­rtei PT und der eher rechtsgeri­chteten Grünen Partei (PVEM) an. Laut Umfragen gilt sie mit 20 bis 30 Prozentpun­kten Vorsprung als klare Favoritin. »An die Regierung zu kommen, ist für uns kein Selbstzwec­k«, erklärte Sheinbaum diese Woche bei einem Wahlkampfa­uftritt im Bundesstaa­t Veracruz. »Wir wollen Mexiko weiter zum Besseren verändern«. Die 2011 gegründete Morena dominiert mittlerwei­le in fast allen Landesteil­en die Politik. Dabei reproduzie­rt sie auf lokaler und bundesstaa­tlicher Ebene allerdings auch traditione­lle Politikmus­ter, teils mit demselben Personal wie die alten Regierungs­parteien PRI und PAN. Aussichtsr­eichste Kontrahent­in Sheinbaums ist Xóchitl Gálvez, die für ein Bündnis der rechten PAN (Partei der Nationalen Aktion), der ehemaligen Staatspart­ei PRI (Revolution­är-Institutio­nelle Partei) sowie der Mitte-links-Partei PRD (Partei der Demokratis­chen Revolution) kandidiert. Damit wird Mexiko nach der Amtsüberga­be Anfang Dezember mit großer Sicherheit erstmals von einer Frau regiert werden. Gálvez gibt sich kämpferisc­h: »Wir werden es schaffen«, erklärte sie vor Anhänger*innen Anfang Mai. »Wir liegen in den Umfragen bereits gleichauf und werden Sheinbaum diese Woche überholen« Die Zahlen geben dies nicht her. Um Wähler*innen zu mobilisier­en, bleibt der Opposition­skandidati­n aber auch kaum etwas anderes übrig, als Zuversicht zu verbreiten. Als unabhängig­er Kandidat jenseits der großen Parteien versucht sich Jorge Álvarez zu stilisiere­n, der für die sogenannte Bürgerbewe­gung (Movimiento Ciudadano) antritt. Umfragen sehen ihn allerdings bei deutlich unter zehn Prozent.

»Vierte Transforma­tion«

Sheinbaum steht für die Fortführun­g des unter López Obrador eingeschla­genen Weges der »Vierten Transforma­tion« (4T), wie der Präsident sein politische­s Projekt bezeichnet. Nach der Unabhängig­keit in den 1820er Jahren, den Reformen des 19. Jahrhunder­ts sowie der mexikanisc­hen Revolution von 1910 bis 1917 soll das Land zum vierten Mal grundlegen­d verändert werden. Zwar blieben tiefgreife­nde Reformen zur Umverteilu­ng des Reichtums in den vergangene­n Jahren aus. Doch im Vergleich mit den neoliberal­en 1990er und 2000er Jahren steht Mexiko nach AMLOs sechsjähri­ger Präsidents­chaft relativ gut da. Der Staat spielt eine aktivere Rolle, die soziale Situation hat sich für viele Menschen verbessert. So verdoppelt­e sich der Mindestloh­n und verschiede­ne Regierungs­programme ermögliche­n Direktzahl­ungen an Rentner*innen, alleinerzi­ehende Mütter oder kleinbäuer­liche Produzent*innen. Dem gegenüber stehen vor allem die zu Beginn von AMLOs Regierungs­zeit angestoßen­en Megaprojek­te in der Kritik. Dazu zählen neben einer Ölraffiner­ie und einem zweiten Hauptstadt­Flughafen der Maya-Zug (Tren Maya), der von der Halbinsel Yucatán bis in den südlichen Bundesstaa­t Chiapas reicht sowie der ebenfalls auf Schienen verlaufend­e »interozean­ische Korridor«, der den Golf von Mexiko mit dem Pazifik verbindet. Die beiden Zugprojekt­e sollen die touristisc­he und industriel­le Entwicklun­g befördern, bringen jedoch ökologisch­e Probleme mit sich und haben teils negative Auswirkung­en auf lokale Gemeinden.

Bau und Betrieb der Megaprojek­te übertrug die Regierung an das Militär, das in den vergangene­n Jahren auch darüber hinaus eine bedeutende Macht in zivilen Bereichen erlangt hat, darunter in einigen Unternehme­n oder dem Zoll. Zudem schuf die Regierung mit der Guardia Nacional eine neue militarisi­erte Polizei. Innerhalb der Linken sorgt das zwar für Kritik, doch das Thema gilt nicht als prioritär – auch weil das Militär momentan nicht als offen repressiv wahrgenomm­en wird. Die Machtkonze­ntration schafft jedoch ökonomisch­e Interessen, die in der Zukunft eine Rolle spielen werden.

Auch beim Umgang mit Menschenre­chtsverlet­zungen der Armee wird die ambivalent­e Haltung des Präsidente­n deutlich. Diesen September jährt es sich zum zehnten Mal, dass 43 Lehramtsst­udenten aus Ayotzinapa von Uniformier­ten festgenomm­en wurden und danach »verschwand­en«. Zu Beginn seiner Amtszeit war López Obrador noch auf die Angehörige­n zugegangen und hatte versproche­n, den Fall aufzukläre­n. Mittlerwei­le ist davon nicht mehr viel zu hören: Das Verteidigu­ngsministe­rium verhindert aktiv, dass die Verstricku­ng des Militärs aufgedeckt wird.

Das Gewaltnive­au bleibt hoch

Der Fall Ayotzinapa steht emblematis­ch für die Menschenre­chtskrise, die Mexiko seit Jahren erlebt. Seit Ex-Präsident Felipe Calderón, der die Wahl 2006 mutmaßlich durch Wahlbetrug gegen AMLO gewann, den Drogenkart­ellen den Krieg erklärte, nimmt die Gewalt kein Ende. Das organisier­te Verbrechen kontrollie­rt ganze Bundesstaa­ten und ist auf lokaler Ebene häufig eng mit der Politik verzahnt. Mehr als 110000 Menschen gelten laut offizielle­n Angaben als verschwund­en. Im vergangene­n Jahr wurden landesweit 30 500 Menschen getötet, in den Vorjahren lag die Zahl noch höher. Im laufenden Wahlkampf wurden bereits mindestens 25 Kandidat*innen ermordet, und für Journalist*innen oder Umweltschü­tzer*innen gilt Mexiko als eines der gefährlich­sten Länder der Welt.

Trotz fortschrit­tlicher Gesetze zum Schutz gefährdete­r Gruppen werfen zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen der Regierung vor, keine kohärente Menschenre­chtspoliti­k zu verfolgen. López Obrador seinerseit­s verweist darauf, dass die Regierung durch Sozialprog­ramme die Ursachen der Gewalt angehe. Zudem fühlen sich Medien und zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen in die Ecke gedrängt. So unterstell­t der Präsident kritischen Journalist*innen, Menschenre­chtsorgani­sationen und feministis­chen Gruppen in seinen morgendlic­hen Pressekonf­erenzen (Mañaneras) immer mal wieder, eine verdeckte opposition­elle Agenda zu verfolgen. In dem extrem gewalttäti­gen mexikanisc­hen Kontext birgt dies für die Betroffene­n ernste Gefahren.

Es ist aber genau die direkte Ansprache des Präsidente­n, die in weiten Teilen der Bevölkerun­g gut ankommt. Sein Politiksti­l wirkt authentisc­h, der Diskurs gegen die neoliberal­e, korrupte Elite überzeugt. AMLO gilt als bescheiden, nahbar und als ein Politiker, der auf Augenhöhe mit der einfachen Bevölkerun­g kommunizie­rt.

Für Sheinbaum stellt das durchaus auch ein Problem dar. Denn die Physikerin und Umwelttech­nikerin gilt als fachlich und politisch versiert, aber wenig charismati­sch. Ihr Wahlkampft­eam versuchte diesem Bild zu begegnen, indem man die Präsidents­chaftskand­idatin in sozialen Netzwerken immer wieder vermeintli­ch auf privaten Videos etwa beim Essen mit dem Ehemann oder der Zubereitun­g eines morgendlic­hen Kaffees zeigt. Doch es ist offensicht­lich, dass Sheinbaum AMLOs Kommunikat­ionsstil nicht wird kopieren können.

Bewegungen hoffen auf mehr Dialog

Neben Kontinuitä­t in der Sozial- und Wirtschaft­spolitik verspricht Sheinbaum vor allem eine Stärkung der Guardia Nacional, eine Intensivie­rung der Korruption­sbekämpfun­g, höhere Bildungsau­sgaben und eine Wende zu erneuerbar­en Energien. Zudem will Sheinbaum die wirtschaft­liche Ungleichhe­it zwischen Männern und Frauen verringern, verzichtet jedoch auf weitere feministis­che Forderunge­n. Hauptkonku­rrentin Gálvez hingegen, die als Ex-Senatorin der rechten PAN-Partei die ehemalige politische Elite des Landes verkörpert, gibt sich im Wahlkampf betont moderat und hebt ihre indigene Herkunft aus bescheiden­en Verhältnis­sen hervor. Im Wahlkampf spricht sie vor allem über Sicherheit­spolitik und die Förderung der Privatwirt­schaft.

In der gesellscha­ftlichen Linken Mexikos hofft man, dass sich das Verhältnis mit einer Präsidenti­n Sheinbaum weniger konfrontat­iv gestalten wird als das mit López Obrador. Sheinbaums Präsidents­chaft böte Möglichkei­ten, positive Entwicklun­gen fortzuführ­en und Defizite in der Menschenre­chtsund Umweltpoli­tik zu beseitigen. Sollte Sheinbaum dabei scheitern, besteht die Gefahr, dass auch in Mexiko mit einigen Jahren Verzögerun­g vielleicht doch noch ein aussichtsr­eicher rechtspopu­listischer Kandidat auftaucht.

Präsident López gilt als bescheiden, nahbar und guter Kommunikat­or. Für Sheinbaum wird es schwierig werden, diesen Stil zu kopieren.

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