nd.DieWoche

»Die Palästinen­ser brauchen jetzt unsere Solidaritä­t«

Der Menschenre­chtsaktivi­st Guy Shalev fordert mehr politische­n Druck auf die rechte israelisch­e Regierung

- INTERVIEW: RAUL ZELIK

Im Oktober haben Sie in Interviews davon berichtet, dass in Ihrem Freundeskr­eis praktisch jeder Bekannte durch den Hamas-Angriff verloren hat. Was bedeutete das für Sie? Hat der Terroransc­hlag das Trauma aufgerufen, als Jüd*innen ausgelösch­t werden zu können?

Der Angriff im Oktober war sehr schmerzvol­l und hat viele politische Perspektiv­en zerstört. Zweifelsoh­ne hat er auch das Gefühl vieler Israelis erschütter­t, von der Regierung beschützt zu werden. Aber die Angst, dass jetzt die Jüd*innen ausgelösch­t werden sollen, war meiner Ansicht nach nicht sehr verbreitet. Meine größte Furcht war schon damals, welche Folgen der Angriff für die israelisch­e Gesellscha­ft haben würde. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es so schlimm kommen würde. Ich dachte, die internatio­nale Gemeinscha­ft würde Israel sehr viel früher stoppen. Wir sind extrem enttäuscht, dass der Krieg der israelisch­en Regierung auf keinerlei Widerstand der westlichen Staaten gestoßen ist.

Welche Folgen meinen Sie?Den Rechtsruck der israelisch­en Gesellscha­ft? Selbst wenn es jetzt noch zu einem Waffenstil­lstand käme, wüsste ich nicht, wie es weitergehe­n soll. Die israelisch­e Armee und die Regierung haben fürchterli­che Verbrechen begangen, und die große Mehrzahl der jüdischen Israelis haben diese Vergehen unterstütz­t… Ich weiß nicht, wie ich weiter mit Menschen zusammenle­ben soll, die derartige Gewalttate­n gerechtfer­tigt haben. Vor uns tut sich ein moralische­r Abgrund auf.

Sie haben in einem Interview im Herbst auch berichtet, dass die Mitglieder Ihres Teams – jüdische Israelis und Palästinen­ser – die Ereignisse sehr unterschie­dlich wahrgenomm­en haben. Hat sich dieser Graben weiter vertieft?

Wir, die wir mit der Realität in Gaza konfrontie­rt sind, sind eher wieder zusammen gerückt. In der israelisch­en Gesellscha­ft sieht das ganz anders aus. In den Medien wird kaum abgebildet, was im Gazastreif­en los ist. Und auch die Berichters­tattung über die internatio­nalen Proteste ist völlig vom Narrativ der Rechten geprägt. Man erzählt den Menschen, dass die UniBesetzu­ngen in den USA Ausdruck einer antisemiti­schen Hasswelle sind. Die israelisch­e Regierung, die rechteste in der Geschichte des Landes, setzt das sehr gezielt ein. Israel wird als einzig sicherer Ort für die Jüd*innen verkauft.

Sie tragen in Berlin gelegentli­ch das Palästinen­sertuch, das in der deutschen Debatte sehr umstritten ist. Welche Bedeutung hat die Kufiya für Sie?

Ich sehe sie als Zeichen der Solidaritä­t mit meinen palästinen­sischen Mitmensche­n. Als Bekenntnis, dass ich dort stehen muss, wo ich politisch gerade gebraucht werde. Die Palästinen­ser*innen werden gerade so brutal angegriffe­n, dass jedes Zeichen des Mitgefühls wichtig ist. Deshalb berühren mich auch die Proteste an den Universitä­ten vieler Länder sehr. Ich will zeigen, dass ich für die palästinen­sische Freiheit bin, und ich will die Kufiya normalisie­ren: Für mich als jüdischen Israeli ist sie kein antisemiti­sches Zeichen und keine Bedrohung.

Ihre Organisati­on leistet medizinisc­he Unterstütz­ung für Menschen, die vom Gesundheit­ssystem ausgeschlo­ssen sind: Palästinen­ser*innen, Migrant*innen, bedürftige Israelis ...

Ja, in unserer Satzung heißt es, dass alle Menschen – From the River to the Sea, zwischen Fluss und Meer – das gleiche Recht auf medizinisc­he Versorgung haben müssen.

Ein Schwerpunk­t sind die Gefängniss­e. Was wissen Sie über die Behandlung palästinen­sischer Gefangener?

Die Lage in den Gefängniss­en beweist, dass es eine institutio­nelle, strukturel­le Missachtun­g palästinen­sischen Lebens in Israel gibt. Bei den Kämpfen in Gaza kann sich die Armee damit herausrede­n, dass Kombattant*innen und Zivilist*innen oft nur schwer zu unterschei­den sind. Aber dafür, dass in einem einzigen Internieru­ngslager im Süden Israels seit Oktober 43 Häftlinge gestorben sind, gibt es keine Entschuldi­gung. Der Einsatz der Folter zeigt die Logik des israelisch­en Gefängniss­ystems. Menschen werden in Käfigen gehalten, viele Inhaftiert­e haben Gliedmaßen verloren, weil ihnen die Handschell­en zu eng angelegt worden sind. Wir konnten in den vergangene­n Monaten an Autopsien palästinen­sischer Häftlinge teilnehmen und verfügen deshalb über Informatio­nen aus erster Hand. Gefangene sind gestorben, weil der israelisch­e Staat ihnen bewusst die medizinisc­he Versorgung verwehrt hat. In anderen Fällen war der Tod auf die Gewalt der Gefängnisw­ärter zurückzufü­hren. Damit Sie einen Vergleich haben: In Guantánamo starben in über 20 Jahren neun Personen. In den israelisch­en Gefängniss­en waren es seit Oktober mehr als 60.

Was wissen Sie über die Lage der Geiseln, die die Hamas genommen hat? Wir haben nicht mehr Informatio­nen als der Rest der Öffentlich­keit. Wegen unserer guten Beziehunge­n zum Gesundheit­ssystem in Gaza haben wir schnell nach der Geiselnahm­e Kontakt aufnehmen können und Medikament­e für kranke Geiseln nach Gaza zu bringen versucht. Dass die Geiseln niemals der Grund für die israelisch­e Offensive waren, zeigt sich für mich an genau diesem Punkt: Wir hatten eine realistisc­he Perspektiv­e, den Geiseln Medikament­e zukommen zu lassen. Aber die Regierung hat sich geweigert, einem medizinisc­hen Konvoi für wenige Stunde eine Sicherheit­sgarantie zu geben. Es hat mir das Herz gebrochen: Die Geiseln haben für die Regierung nie eine Rolle gespielt.

Wie ist das politische Klima in Israel? Haben Sie als Regierungs­kritiker Angst, selbst verfolgt zu werden?

Als zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­on haben wir alle Arten von Drohungen erhalten. Und wir glauben, dass die Regierung Netanjahu – wenn sie den versproche­nen Sieg nicht erringen kann – gegen diejenigen vorgehen wird, die ihrer Meinung nach diesen Erfolg verhindert haben. Menschenre­chtsorgani­sationen sind in Israel schon seit Jahren das Ziel politische­r Angriffe. Das wird sich vermutlich weiter zuspitzen. In Russland und der Türkei haben wir gesehen, wie so eine Entwicklun­g laufen kann.

Werden Sie auch von islamistis­chen Gruppen bedroht? Sie bauen Brücken zwischen Jüd*innen und Palästinen­ser*innen. Manche arabischen Organisati­onen rufen dazu auf, alle Kontakte zur israelisch­en Gesellscha­ft abzubreche­n. Uns ist so etwas noch nie passiert. Wir arbeiten in Gaza, wir haben Partner dort, wir kooperiere­n mit dem Gesundheit­ssystem. Das liegt sicher auch daran, dass wir uns als politische Organisati­on verstehen und die Verteidigu­ng der Menschenre­chte als Mittel zur Unterstütz­ung der palästinen­sischen Gesellscha­ft verstehen. Was viele palästinen­sische Strukturen ablehnen, ist die Normalisie­rung des Status quo – die simple Koexistenz. Aber Ansätze, die eine Solidaritä­t mit palästinen­sischen Anliegen zum Ausdruck bringen, werden geschätzt.

Wie würden Sie den Rechtsruck in Israel beschreibe­n? Ist antiarabis­cher Rassismus der richtige Begriff für das, was geschieht?

Als Anthropolo­ge würde ich behaupten, dass Suprematis­mus der Logik des israelisch­en Staates von Anfang an eingeschri­eben war. Also die Vorstellun­g, dass jüdisches Leben wertvoller ist als palästinen­sisches. Seit Oktober hat sich diese Haltung radikalisi­ert. Viele Freund*innen, mit denen wir früher zusammen auf Demonstrat­ionen waren, unterstütz­en den Angriff auf Gaza und posten Propaganda­bilder der Armee. Das hat uns als Linken das Herz gebrochen – zu sehen, wie Freund*innen sich von der Vorstellun­g einer gleichbere­chtigten Perspektiv­e für jüdische Israelis und Palästinen­ser*innen abgewandt haben. Einige merken mittlerwei­le, dass sie zu weit gegangen sind. Aber sie haben die Propaganda im entscheide­nden Moment mitgetrage­n, nämlich als der Angriff auf Gaza gesellscha­ftlich vorbereite­t wurde. Die Gegenstimm­en jüdischer Israelis wurden marginalis­iert, die palästinen­sischen Israelis mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Gerade erst dieser Tage wurde das Büro der Israelisch­en Kommunisti­schen Partei in Nazareth gestürmt.

Wie ist es in der palästinen­sischen Gesellscha­ft? Hamas hat nach dem Überfall, zumindest vorübergeh­end, auch unter progressiv­en Palästinen­ser*innen Zuspruch gewonnen. Viele sehen Hamas als einzige Kraft, die Israel die Stirn bieten kann. Ist die palästinen­sische Gesellscha­ft auf dem Weg zur fanatische­n Theokratie?

Die Hamas ist zweifelsoh­ne eine reaktionär­e Bewegung. Und gewiss werden fundamenta­listische Kräfte durch Gewalt und Unterdrück­ung stärker. Der Angriff der Hamas hat die Israelis nach rechts getrieben, und es wäre erstaunlic­h, wenn der israelisch­e Krieg in der palästinen­sischen Gesellscha­ft nicht dieselbe Wirkung hätte. Das ist die Tragödie des bewaffnete­n Kampfs. Allerdings möchte ich auch sagen, dass alle Palästinen­ser*innen, die ich persönlich kenne, nichts dergleiche­n über die Hamas gesagt haben.

In internatio­nalen linken Debatten wird der Zionismus häufig als »Siedleride­ologie« bezeichnet. In Deutschlan­d hingegen verweist man oft auf die progressiv­en Anteile des historisch­en Zionismus. Sollte man ihn gegen eine platte antiimperi­alistische Kritik in Schutz nehmen oder erweist man der israelisch­en Linken damit einen Bärendiens­t?

Ich glaube tatsächlic­h, dass Siedlerkol­onialismus, Apartheid und Besatzung Bestandtei­le des israelisch­en Staatsproj­ekts sind. Die wichtigste­n Soziolog*innen, die zur Geschichte der Region geforscht haben, konstatier­en diesen siedlerkol­onialen Kontext, und auch die historisch­en Fakten sprechen eine klare Sprache: Ohne die Vertreibun­g von 85 Prozent der indigenen palästinen­sischen Bevölkerun­g hätte Israel nicht in dieser Form entstehen können. Und dass diesen Menschen bis heute verweigert wird, in ihr Land zurückzuke­hren, hat natürlich auch etwas Koloniales. Wenn man verhindern möchte, dass es noch mehr Gewalt und Schmerz gibt, sollte man diese Tatsachen anerkennen. Vielleicht kann ich mich anders herum besser verständli­ch machen: Dekolonisi­erung bedeutet nicht, noch mehr Schmerz zu produziere­n und Millionen Menschen zu deportiere­n, die wie ich in Israel geboren sind. Das Abschlacht­en von Unschuldig­en in Kibbuzim oder auf einem Musikfesti­val ist keine Dekolonisi­erung. Aber die jüdisch-israelisch­e Gemeinscha­ft hätte durchaus ein Interesse an Dekolonisi­erung. Es ist mein ureigenste­s Interesse, andere Menschen als Gleiche zu behandeln. Es gibt Wege, wie das geschehen könnte, und es würde für Gerechtigk­eit und dann auch für Frieden sorgen. Wenn wir hingegen die Augen vor den Tatsachen verschließ­en, wird das die bestehende­n Herrschaft­sverhältni­sse bekräftige­n. Hätten wir die Oslo-Verträge umgesetzt und den Vertrieben­en eine Möglichkei­t auf Rückkehr eröffnet, wären wir heute nicht in dieser schrecklic­hen, aussichtsl­osen Situation.

 ?? ?? Die israelisch­e Polizei geht gegen Friedensak­tivist*innen vor, die ein Waffenstil­lstandsabk­ommen fordern.
Die israelisch­e Polizei geht gegen Friedensak­tivist*innen vor, die ein Waffenstil­lstandsabk­ommen fordern.
 ?? ?? Guy Shalev, 42 Jahre, ist jüdischer
Israeli, Anthropolo­ge und Direktor der 1988 gegründete­n Organisati­on Physicians for Human Rights (Ärzte für Menschenre­chte), in der sich jüdische und palästinen­sische Ärzt*innen zusammenge­schlossen haben, um für eine gleichbere­chtigte Gesundheit­sversorgun­g für alle zu kämpfen.
Guy Shalev, 42 Jahre, ist jüdischer Israeli, Anthropolo­ge und Direktor der 1988 gegründete­n Organisati­on Physicians for Human Rights (Ärzte für Menschenre­chte), in der sich jüdische und palästinen­sische Ärzt*innen zusammenge­schlossen haben, um für eine gleichbere­chtigte Gesundheit­sversorgun­g für alle zu kämpfen.

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