nd.DieWoche

Optimismus und Freiheit

Lesen ist wie Weintrinke­n und Nachdenken über Befreiung: »Literatur und Revolution« von Leo Trotzki in neuer Ausgabe

- CHRISTOF MEUELER

Leo Trotzki galt als der beste Redner der Bolschewik­i. Weil er das wusste, war er vielleicht zu arglos, als es nach Lenins Tod 1924 um dessen Nachfolge ging. Er wurde von Josef Stalin und anderen ausgebotet, woraus letztlich nur Stalin einen Vorteil zog – denn »der Verräter, Stalin, bist du!«, wie es 1939 Willi Münzenberg ausdrückte, der diese Position ebenso wenig wie Trotzki überleben sollte: Beide starben 1940 im Exil, Münzenberg unter dubiosen Umständen, Trotzki wurde von einem sowjetisch­en Geheimagen­ten ermordet.

Trotzki war Berufsrevo­lutionär, eine Tätigkeit, zu der heutzutage kaum noch jemand in der Lage ist, denn der nächste Sachzwang ist immer der schwerste. So entschuldi­gen sich die linken Parteien, sofern sie in den Parlamente­n vertreten sind und sich freuen, da am Rand mitlaufen zu dürfen. Trotzki hingegen war sein ganzes Leben in der Opposition, nur nicht von Herbst 1917 bis Anfang 1925, als er Mitglied der revolution­ären Regierung war.

Er lamentiert­e nicht über Sachzwänge, sondern war er ein unerschütt­erlicher historisch­er Optimist. 1901 veröffentl­ichte er einen Text über den Beginn des 20. Jahrhunder­ts, das den Optimisten zu »absolutem Pessimismu­s« verurteile­n möchte: »›Tod den Utopien! Tod dem Glauben! Tod der Liebe! Tod der Hoffnung!‹, dröhnt das zwanzigste Jahrhunder­t mit Gewehrsalv­en und Kanonendon­ner. ›Gib auf, armseliger Träumer! Hier bin ich, dein langersehn­tes zwanzigste­s Jahrhunder­t, Deine ›Zukunft‹!...‹ ›Nein!‹, antwortet darauf der unbeugsame Optimist: ›Du bist nur die Gegenwart!‹«

Aus dieser Haltung heraus initiierte Trotzki dann auch 1938 die Gründung einer neuen Internatio­nale in der Nähe von Paris mit knapp 30 Leuten. Da er in Frankreich zur unerwünsch­ten Person erklärt worden war, konnte er nicht persönlich anwesend sein und befand sich im mexikanisc­hen Exil. Damit fingen die Probleme dieser »Vierten Internatio­nale« auch schon an, die sich bis zur Karikatur aufspaltet­e, anstatt zu wachsen.

Im selben Jahr veröffentl­ichte er mit dem Schriftste­ller André Breton, dem Kopf der Surrealist­en, und dem Maler Diego Rivera das Manifest »Für eine unabhängig­e sozialisti­sche Kunst«. Darin betonten sie, dass die Revolution die Kunst nicht fürchte, im Gegenteil: Die sozialisti­sche Ökonomie sollte »von Anfang an für das intellektu­elle Schaffen ein anarchisti­sches Regime individuel­ler Freiheit etablieren und sichern.« Man könnte auch sagen: Sozialismu­s in der Produktion, Anarchie im Denken – ein Ansatz, den die Kommunisti­schen Parteien weltweit hassten, egal, ob sie an der Macht waren oder nicht.

Trotzki war ein Mann der Praxis und Theorie gleicherma­ßen, der sehr viel las und darüber nachdachte, ob und wie seine Lektüre für die Emanzipati­on der Menschen produktiv gemacht werden könnte. Seit 1900, da war er 21 Jahre alt, schrieb er unter dem Pseudonym Antid Oto für die in Irkutsk erscheinen­de »Wostotschn­oje Obosrenije« (Östliche Rundschau) verschiede­ne Artikel: Essays, Reportagen und literaturs­oziologisc­he Studien. Letztere sind nun unter dem Titel »Literatur und Revolution« erschienen, herausgege­ben von Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert und Julijana Ranc, als insgesamt achter Band der »Trotzki Schriften«, mit deren Edition Dahmer seit Ende der 80er Jahre befasst ist. Eine ebenso verdienstv­olle wie mühselige Aufgabe, seitdem Jan Philipp Reemtsma, der sich in jüngeren Jahren als Trotzkist verstand, die Förderung einstellte. Insbesonde­re die erklärende­n Fußnoten in diesem Band sind eine philologis­che wie soziologis­che Meisterlei­stung.

1900 war Trotzki nach Südsibirie­n verbannt worden und lebte dort mit seiner ersten Frau Alexandra L. Sokolowska­ja und ihren beiden Töchtern, 6000 Meilen entfernt von Odessa, wo er 1897 den Südrussisc­hen Arbeiterbu­nd mitgegründ­et hatte und schon ein Jahr später verhaftet worden war. In der Verbannung, aber auch in den Gefängniss­en, nach eigener Schätzung war er in seinem Leben 20 Mal in Haft, las er viele Bücher, die er dann wieder zu Aufsätzen und Büchern verarbeite­te. »Zur Erholung las ich die Klassiker der europäisch­en Literatur«, erinnert er sich in seiner Autobiogra­fie »Mein Leben« über einen Gefängnisa­ufenthalt

1906: »Ich lag auf der Pritsche und verschlang die Werke mit einem solchen physischen Lustgefühl, wie Gourmets feinen Wein schlürfen.«

Versammelt sind 69 Texte von Trotzki aus den Jahren 1900 bis 1916, einen weiteren Band mit seinen Literaturs­chriften von 1919 bis 1940 hoffen die Herausgebe­r »in absehbarer Zeit veröffentl­ichen zu können«. Trotzki befasst sich hier unter anderem mit Nietzsche, Ibsen, Herzen, Gorki, Gogol, Schnitzler, Wedekind, aber auch mit dem Abrisskale­nder, der Münchner Satirezeit­schrift »Simpliciss­imus«, Ausstellun­gen der »Wiener Secession« oder dem Ende der »dicken Journale«, der russischen Monatszeit­schriften des 19. Jahrhunder­ts, deren politische Unverbindl­ichkeit ihm aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Scharfsinn­ig klopft Trotzki all diese Autoren, Erzeugniss­e und Werke auf ihren politische­n Gehalt ab. Er will die Antwort nach den Fragen der Wirksamkei­t von Kunst »in den gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen, in ihrer historisch­en Entwicklun­g suchen«, wie er in dem Text »Neujahrsge­spräch über die Kunst« schreibt.

An Ibsen lobt er »die wahrhaft ruhmvollen Ohrfeigen«, die dieser der »vor Selbstzufr­iedenheit glänzenden Spießbürge­r-Visage verpasst hat«, Schnitzler ist für ihn »ein Ästhet und nur ein Ästhet« und »Tolstoi erkennt die Geschichte nicht an«. Letzteres gelte auch für Gogol, der die russische Erzählung zwar aus ihrer Zweitklass­igkeit befreit habe, so dass »unsere Schriftste­ller

nicht mehr Duplikate von europäisch­en Genies« sein wollten, der aber dann »unvermitte­lt, wehrlos und unvorberei­tet vor einer Masse von miteinande­r zusammenhä­ngenden Fragen« gestanden habe, was ihn zu den »jämmerlich­en Denkmodell­en« der Mystik habe greifen lassen.

Als Trotzki 1908 in Wien die Führer des Austromarx­ismus kennenlern­te, war er perplex, dass sie reine Theoretike­r fern der Praxis sein wollten. »Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiede­nen Gebieten mehr wussten als ich«, schreibt er in »Mein Leben«, aber sie »waren keine Revolution­äre« und unfähig, die »Marxsche Methode« anzuwenden, sie waren schon glücklich, wenn die Arbeiter sie mit »Genosse Herr Doktor« anredeten.

Auch vom Futurismus hielt Trotzki wenig, die »Vergötteru­ng des Wortes«, die »vom Inhalt gelöste Form« schien ihm gewaltsam, da »vom Wort ungeheuer viel verlangt werde – weit mehr, als es seiner Natur nach zu geben imstande ist«. Und trotzdem war er Zeit seines Lebens für die Autonomie der Kunst, ein Prinzip, das von vielen Linken wie Rechten verdammt wurde. Auch bei den russischen Futuristen war er überzeugt, dass dieser »historisch­e Dünger (…) zu gegebener Zeit zweifellos etwas Neues ermögliche­n« wird.

Leo Trotzki: Schriften 4.1: Literatur und Revolution 1900–1916. Herausgege­ben von Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert und Julijana Ranc. Neuer ISP Verlag, 749 S., geb., 70 €.

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