Eine Handvoll Böller
Vorabdruck aus Olivier Davids Essayband »Von der namenlosen Menge«
Ein später Nachmittag am letzten Tag des alten Jahrtausends. Um dem Gefühl des Alleinseins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Meine Stimmung passt zu diesem nasskalten Dezembertag, sie passt zum taubengrauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. Ich bin elf Jahre alt, ich bin draußen auf der Straße unterwegs, streife durch die Stadt, mit einer Handvoll Böller.
Die Dämmerung bricht langsam herein, als ich beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den Stufen, die an die Außenmauer des Karstadt-Gebäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der großen Bergstraße. Am Schaufenster des Klamottenladens Hundertmark bleibt mein Blick an der dunkelbraunen Lederjacke für 699 Mark kleben. Kurz hellt sich meine Stimmung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Lederjacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reiße ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.
Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Straße zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir, es ist eher etwas, das ich pflichtbewusst erledige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D-Böller stecke ich zurück in die Tasche. Am Ende der großen Bergstraße explodiert plötzlich etwas unmittelbar vor meinen Füßen. Die Detonation ist heftig, sie reißt mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar übermütige Jugendliche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explosion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfundene Isolation von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe. Eine Isolati
Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht.
on, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isolation, die gleichzeitig auch ein Trugschluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Alleinsein, wir sind jeder für sich nebeneinander allein. Es ist das Alleinsein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.
Vor einiger Zeit habe ich online einer Podiumsdiskussion über soziale Herkunft und Klassenwechsel zugesehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veranstaltung immer wieder in meinem Inneren auf: »Die Klasse, die es nicht gibt«. Die Formulierung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusstsein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahrheit körperlich spürte. Mir kommt kein Gefühl in den Sinn, das ehrlicher und ernüchternder zugleich ist als jenes, das beim Vorgang spürbar wird, sich der Realität zu stellen, in der es für die meisten so wenig zu gewinnen gibt. Dieselbe Wahrheit besagt, dass ich alleine von dieser Erde gehen werde. Eine Wahrheit, in der geschrieben steht, dass ich in Einsamkeit und Armut sterben muss, zu früh sterben muss, weil diese Phänomene einer Gesetzmäßigkeit folgen.
Der Junge mit den Böllern in der Hand verwandelte sich in einen spätpubertierenden Jugendlichen, aus der Jahrtausendwende wurde 2007. Hätte mich damals jemand gefragt, wer die Hintermänner von 9/11 seien, ich hätte, mit einem Lächeln auf den Lippen, das Überlegenheit ausstellen sollte, aber von Verbitterung geprägt war, gesagt, es sei ein Insidejob gewesen – was denn sonst? Das war keine rein private Meinung, es war so etwas wie die kollektive Wahrheit meines Milieus.
Es war ein gutes, ein überlegenes Gefühl, einer der Wissenden zu sein. Mitte 2008 begann ich zweiunddreißig Stunden die Woche in einem Supermarkt zu arbeiten. Irgendwann in dieser Zeit fing ich schon vor der Schicht zu kiffen an, ab dem Nachmittag oder Abend trank ich Bier, ein paar Mal die Woche dazu Schnaps. Die Arbeitskollegen und Freunde, mit denen ich mich umgab, waren wie ich, zumindest fühlte ich mich ihnen gleich. Sie zogen Speed vor der Frühschicht, malten in ihrer Freizeit Wände und Züge, dealten und kifften oder tranken zu viel. Niemand glaubte an das eigene Vorankommen. Keiner gab sich der Illusion hin, dass die Welt für einen von uns etwas anderes zu bieten hatte. Man kämpfte dafür, es im Rahmen seines Alltags etwas weniger schlecht zu haben. Mehr Freizeit, weniger Lohnarbeit: Das war die ganze Zukunftsvision. Das schöne Leben, das wir uns ausmalten, war von dem Wunsch nach »weniger« gekennzeichnet, weniger Probleme zu haben, anstatt nach Verbesserungen, von denen wir nicht zu träumen wagten. Vorankommen bedeutete aufzuhören, die Regeln der oberen Klassen zu befolgen, so sehr hatte sich die Hoffnungslosigkeit in vielen von uns breitgemacht.
Vor Kurzem las ich bei erneuter Lektüre von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« folgende Sätze, in denen ich mich wiederfinde. »Dass es anderswo anders zugeht, dass andere Leute andere Ziele und Möglichkeiten haben, weiß man sehr wohl, aber dieses Anderswo liegt in einem so unerreichbaren, separaten Universum, dass man sich weder ausgeschlossen noch benachteiligt fühlt, wenn einem der Zugang zu den Selbstverständlichkeiten der anderen verwehrt bleibt. So ist die Welt geordnet, Punkt. Warum, weiß man nicht. Dazu müsste man sich selbst von außen betrachten, bräuchte einen Überblick über das eigene Leben und das Leben der anderen.«
In verschiedenen Momenten meines Lebens habe ich mich als Teil von etwas gefühlt, das ich heute im Nachgang als Klasse oder Klassenfraktion bezeichne. Im Stadion, wenn ich mit einem Lied verschmolz und die Gedanken, die sonst unaufhörlich ratterten, endlich verstummten. Wenn ich mit Freunden auf dem Skateboard durch die Stadt fuhr und die Trennung zwischen mir und der Welt überwand. Wenn ich mit Nachbarn und Bekannten gegen einen Klamottenladen aus der rechtsextremen Szene demonstrierte, dessen Mitarbeiter und Kunden im Stadtteil Präsenz zeigten. Wenn ich sah, dass eine linke Partei irgendwo auf der Welt eine Wahl gewann. Ich denke: Mit dem Klassenbewusstsein ist es wie mit dem Glück; es schaut mal kurz vorbei, es streift den Geist, wärmt ihn, aber dieses Gefühl zu konservieren, wollte mir weder als Kind und Jugendlichem gelingen noch zu der Zeit, in der ich körperlicher Arbeit nachging. Das veränderte sich, sobald ich mit dem Schreiben begann. In »Denken in einer schlechten Welt« beschreibt der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie, wie die Produktion von Kunst, Literatur und Wissen mit einer Verantwortung zum Engagement einhergeht. Im Augenblick des Schreibens »haben wir uns folglich entschieden, uns zu engagieren. Wir sind in etwas engagiert. Und damit können wir die politische Dimension unseres Handelns nicht länger verdrängen und bestreiten.«
An dieses Engagement glaube ich. Mein Schreiben ist ein Versuch, diesem Anspruch an das eigene Engagiertsein gerecht zu werden. Durch mein Schreiben erweckte ich die sozialen Bedingungen, durch die ich meine wesentliche Prägung erfuhr, zum Leben. Oder besser: Ich gewann ein Verständnis davon, welche Machtdynamiken in mir wirkten. Die Not, mich selbst verstehen zu wollen, brachte die Suche nach der eigenen Position ins Rollen, sie bildete den Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit den Geschichten meiner Eltern. Ich wollte meine Geschichte aufschreiben und die Geschichten meiner Familie. Dabei ist es nicht geblieben.
Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus Olivier David: Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit. Haymon, 176 S., geb., 22,90 €. Das Buch erscheint am 16. Mai. Bei der Berliner Konferenz »Marx Is Muss« hält er am Samstag, den 11. Mai, einen Vortrag über Klasse und psychische Gesundheit um 19.45 Uhr am Franz-Mehring-Platz 1.
In meinem Dorf Schöneiche bei Berlin steht ein Gedenkstein für jene sowjetischen Soldaten, die bei den letzten Kämpfen im April 1945 umkamen oder später den Verwundungen im Mai erlagen. Es sind die Namen von 272 Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren. Es seien hier nur einige genannt: Unteroffizier Antonenko, geboren 1912, er starb am 28. April 1945, Gefreiter Drozdov, geboren 1905, er starb am 19. Mai 1945, Soldat Klotschkov, geboren 1911, er starb am 29. April 1945, Leutnant Makschanov, geboren 1903, er starb am 25. April 1945, die Gefreite Vorona, geboren 1925, sie starb am 21. April 1945.
Über siebzig Jahre lang waren ihre Namen auf dem Obelisken zu lesen und die Worte »Ewiger Ruhm«. Doch dieses Jahr, 79 Jahre nach Kriegsende, waren die Namen mit deutscher Gründlichkeit weiß übermalt worden. Kinder, Enkel oder Urenkel derer, die das deutsche Jahrhundertverbrechen des Zweiten Weltkrieges begangen haben, haben es gewagt, Hand an das Ehrenmal zu legen. Welche Schande über sie, über uns!
27 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion starben im Gefolge des Eroberungsund Vernichtungskriegs Deutschlands. Fast sechs Millionen Bürgerinnen und Bürgern Polens erlitten das gleiche Schicksal. 2,6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden auf deutschen Befehl hin auf dem Gebiet der Sowjetunion ermordet, noch mehr waren es auf dem Gebiet von Polen. Wie heißt es auf dem Gedenkstein des Piskarowskoje Friedhofs in Leningrad: »Nicht alle ihre edlen Namen können wir hier nennen,/ So viele sind es unter dem ewigen Schutz von Granit./ Aber wisse, der du diese Steine betrachtest:/ Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.« Nikto nje zabyt i nitschto nje zabyto.
Auch durch den Einsatz von Jelena Dmitrieva, die seit 2013 in Berlin lebt, kennen wir heute die Namen von 7000 der 7200 hier in Treptow begrabenen sowjetischen Soldaten und Soldatinnen. Dafür sei Dank! Niemand sollte namenslos bleiben!
Ich habe die Friedhöfe in den russischen und ukrainischen Dörfern vor Augen: Der
Väter und Söhne der Familien werden hier erinnert. Nur wenige kehrten nach 1945 zurück. Konstantin Simonov hatte gedichtet: »Wart auf mich, ich kehr zurück./ Aber warte sehr. – Viele Mütter, viele Frauen, viele Töchter warteten vergeblich.
Wir haben die Pflicht, niemanden und nichts zu vergessen. Aber zur Schande unseres Landes, der Bundesrepublik, ist das Menschheitsverbrechen eines Vernichtungsund Versklavungskriegs, der mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann, aus der Erinnerung weitgehend getilgt. Der Artikel des Bundespräsidenten Franz Walter Steinmeier im April dieses Jahres in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« hat es vorgemacht. Die Gesamtschuld des Zweiten Weltkriegs wird nicht anerkannt. Der Holocaust war untrennbarer Teil dieses Verbrechens: Der Plan Barbarossa und die Kolonisierungspläne der Nationalsozialisten zielten auf die Vernichtung des Judentums wie des Kommunismus. Jude sein, Kommunist sein – beides war in den Augen der Faschisten gleichermaßen ein Todesurteil. Und es ging darum, das polnische Volk und die Völker der Sowjetunion zu dezimieren und die Überlebenden als Sklaven zu unterjochen.
Wir haben jenen zu danken, täglich zu danken haben, die das Vernichtungs- und Versklavungsverbrechen des deutschen Nationalsozialismus gestoppt haben. Es waren die Völker der Sowjetunion, es waren die Polen, die an der Seite der Alliierten in Ost und West gekämpft haben, die Bürgerinnen und Bürgern der USA, Großbritanniens, Kanadas und Australiens, und ihre Armeen, die Widerstandskämpfer Frankreichs, Jugoslawiens, Griechenlands, Italiens, der Slowakei und Tschechiens, die deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Aufrechten und die Gerechten vieler Völker.
Diese Aufrechten und Gerechten haben eine Botschaft hinterlassen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Aber wir leben im Krieg. Und der Faschismus als Idee, als Bewegung, als politische Kraft und Form der Zerstörung von Zivilität erhebt wieder das Haupt. Deshalb brauchen wir die Kraft, die jene hatten, die vor uns waren und dem Faschismus widerstanden haben.
Es muss einen Aufschrei geben gegen eine neue Blockkonfrontation, gegen neue Kriegsideologien, gegen Vertreibung und Rassismus. Wider die falsche Lehre: Willst du den Frieden, so bereite den Krieg vor. Wer diesen vorbereitet, wird ihn ermöglichen und führen. Verteidigungstüchtigkeit ja, Kriegstüchtigkeit nein! Vor allem aber: Ertüchtigung zu aktiver Friedenspolitik!
Unsere Herzen bluten: Auf dem Boden der Ukraine und Russlands wird Krieg geführt zwischen Brudervölkern. Täglich zerreißen Bomben und Granaten Hunderte Männer und Frauen, sinkt das Aufbauwerk von 75 Jahren in Schutt und Asche. Es gibt in diesem Falle keinen gerechten Krieg. Frankreich spricht davon, eigene Soldaten an die Front zu entsenden. Russland antwortet mit einer Übung mit taktischen Atomwaffen in der Nähe zum Kriegsgebiet. Das Weiter-So ist eine unvorstellbare Katastrophe. Der Weg zum Frieden führt nicht über das Schlachtfeld und die Kapitulation, sondern über einen unmittelbaren Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingungen außer der einen: Kein einziger Schuss, kein einziger Toter mehr!
Auch der Krieg in Gaza geht aus der Schuld hervorgeht, die Deutschland auf sich geladen hat. Unsere Solidarität muss beiden Völkern gelten, dem jüdischen wie dem palästinensischen. Deutschland muss alles tun, um eine Zweistaatenlösung zu unterstützen.
Wir verneigen vor jenen, die durch ihren Kampf den deutschen Faschismus besiegt haben und dafür ihr Leben gaben. Wir werden sie nicht vergessen!
Mit keiner weißen Farbe, mit keinem Meißel können und dürfen die Namen derer vergessen gemacht werden, die für die Freiheit der Völker, für die Befreiung vom Faschismus gestorben sind!
Nikto nje zabyt i nitschto nje zabyto!
Keine weiße Farbe, kein Meißel können die Namen der Befreier vom Faschismus tilgen. Gedanken zur Schändung eines Ehrenmals