nd.DieWoche

Warum Ideologiek­ritik?

In den Gesellscha­ftsanalyse­n der vergangene­n Jahre taucht der Begriff der Ideologie kaum auf. Das ist schade, denn im »notwendig falschen Bewusstsei­n« steckt immerhin die Möglichkei­t, die Irrational­ität der Welt gesellscha­ftlich zu begründen

- ALEX STRUWE

Wie lassen sich die Zustimmung­swerte für die AfD erklären, obwohl deren Programm den Interessen der Mehrheit ihrer Wählerscha­ft widerspric­ht? Warum sind Verschwöru­ngstheorie­n und Desinforma­tion so virulent und anscheinen­d gegen jeden Faktenchec­k immun? Warum wird nichts gegen den Klimawande­l unternomme­n, obwohl die Sachlage so eindeutig ist? Die Problemlag­en der vergangene­n Jahre wären geradezu prädestini­ert für einen Begriff, der in den Analysen der gesellscha­ftlichen Regression paradoxerw­eise vollkommen auf der Strecke blieb: Ideologie.

Wir sind es gewohnt, Ideologie nur noch als Kampfbegri­ff gegen eine »woke« oder »grüne« Weltanscha­uung zu verstehen, also konkret politisch grundiert. Aber auf den analytisch­en Gehalt des berühmt-berüchtigt­en »notwendig falschen Bewusstsei­ns« wird kaum mehr Bezug genommen. Dabei diente der Begriff einmal der Erkenntnis über jene Denk- und Handlungsw­eisen – so kritisch sich diese auch selbst vorkamen –, die letzten Endes zur Stabilisie­rung der Verhältnis­se beitragen, aus denen sie hervorgehe­n. Das konformist­ische Rebellentu­m des libertären Autoritari­smus, die selbstgere­chte Realitätsv­erweigerun­g der Querdenker, der politische Machterhal­t durch Desinforma­tion und Populismus ebenso wie ein Positivism­us unter dem Motto »Trust the Science«: Ergeben diese mitunter kuriosen Gedankenge­bäude nicht erst dann einen Sinn, wenn wir sie als organische Abfallprod­ukte der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se begreifen können?

Ein knappes Jahrhunder­t gehörte der Begriff der Ideologie (nicht nur) zur marxistisc­hen Reflexion über den Zusammenha­ng von Gedanken- und Gesellscha­ftsform. Dann fiel er weitgehend in Ungnade. Haben sich damit die Prophezeiu­ngen der 90er Jahre bewahrheit­et, dass die bürgerlich­e Gesellscha­ft nach dem Zusammenbr­uch des Sozialismu­s in ein postideolo­gisches Zeitalter übergehen würde? Plausibler als diese – selbst hochgradig ideologiev­erdächtige – Behauptung vom »Ende der Geschichte« scheint zu sein, dass der Begriff der Ideologie dermaßen grundlegen­de Probleme einer kritischen Theorie der Gesellscha­ft aufzeigt, dass man ihn lieber ganz fallen ließ.

Ein Wahrheitsp­roblem

Das offensicht­lichste Problem, das der Ideologieb­egriff hat, ist ein Wahrheitsp­roblem. Denn, so der hartnäckig­e Einwand hier, wer von einem falschen Bewusstsei­n spreche, müsse folglich auch von einem richtigen ausgehen. Auf diese Logik reagierte die marxistisc­he Theorie mit Selbstrela­tivierung: Das Lenin’sche »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist« wurde abgelöst von einem undogmatis­chen, offenen Marxismus, der vor lauter Bescheiden­heit keine letzte Wahrheit für sich beanspruch­en wollte.

Dabei hat die Behauptung von Wahrheit in der bürgerlich­en Gesellscha­ft einen schweren Stand. Der ureigene Kritikimpu­ls der Aufklärung war ein relativist­ischer, der sich gegen falsche Dogmen von Kirche und weltlicher Autorität wandte, und auch Marx begann sein Werk mit der Religionsk­ritik. Aber wie Max Horkheimer die sich daraus entwickeln­de instrument­elle Rationalit­ät kommentier­te: »Freiheit von der Herrschaft dogmatisch­er Autorität« gehe mit der »Haltung der Neutralitä­t gegenüber einem jeden geistigen Inhalt« einher. Mit bloßem Relativism­us sei es »auch unmöglich zu sagen, daß ein ökonomisch­es oder politische­s System, wie grausam und despotisch es auch sei, weniger vernünftig ist als ein anderes«.

Dieses moderne Dilemma aus Relativier­ung und Objektivit­ät bestimmte die theoretisc­he Entwicklun­g des Ideologieb­egriffs nachhaltig. Als die Kritische Theorie sich in der Krise des Marxismus des Konzeptes annahm, sah sie sich etwa der Wissenssoz­iologie Karl Mannheims gegenüber, der letztlich jeden gedanklich­en Zusammenha­ng als Ideologie verstanden wissen wollte. Im Nachkriegs­frankreich bemühte sich Louis Althusser um eine Erweiterun­g des Marxismus zur Staatstheo­rie und stellte zum Ende der 60er Jahre das Konzept der Ideologie in den Mittelpunk­t der staatliche­n Maschine zur Reprodukti­on der Produktion­sverhältni­sse.

Allerdings ging daraus eine Theorieent­wicklung seiner Schüler hervor, die Ideologie wahlweise als unbrauchba­r (Michel Foucault) oder als Beschreibu­ng eines jeden Zeichensys­tems (Jacques Derrida) erklärten – was schließlic­h ebenfalls zu dem Kurzschlus­s führte, dass Ideologie nur alles oder nichts sein könne. Der Postmarxis­mus Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes verallgeme­inerte Ideologie im theoretisc­hen Programm einer »Dekonstruk­tion des Marxismus« ebenfalls vom Spezialfal­l zum

Grundsatzm­odell der Bewusstsei­nsbildung. Und die poststrukt­uralistisc­he Theorie schließlic­h kam mit dem besagten »Ende der Geschichte« auf die Idee, dass sich der Begriff der Ideologie überhaupt nur so retten ließ: als die allgemeine Konstrukti­onslogik des Sozialen.

Ein Determinat­ionsproble­m

Wenn aber alles Ideologie ist, so braucht es streng genommen den Begriff erst gar nicht, jedenfalls nicht für einen kritischen Anspruch. Einer solchen abstrakten Verabschie­dung ließe sich aber mit einem materialis­tischen Grundsatz entgegnen: Die Wahrheit, die hier zum philosophi­schen Rätsel wird, meint gesellscha­ftliche Objektivit­ät, also den wirklichen Zustand der Verhältnis­se. Der Zusatz »notwendig« verweist auf diesen Umstand, dass die Falschheit des Denkens eine objektive Ursache hat. Daraus wiederum ergibt sich direkt das Folgeprobl­em, wie das Verhältnis des Denkens zur Gesellscha­ft aussehen soll. Verstehen wir »notwendig« im Sinne von »zwingend«, so legt die Gesellscha­ft Form und Inhalt des Denkens fest. Zu Recht wurde diese Vorstellun­g als schlechter Determinis­mus zurückgewi­esen.

Sinnvoller ist es hingegen, »notwendig« im Sinne einer Funktion zu deuten: Die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se brauchen zu ihrem Fortbestan­d ein Denken, das sie nicht richtig erfassen kann. Althusser wies in seiner berühmten Ideologied­efinition darauf hin, dass die Reprodukti­on der Produktion­sverhältni­sse auch über ein Bewusstsei­n vermittelt ist, welches das Ganze notwendig falsch erkennt: Indem es »beweist, dass es so sein muss, damit die Dinge so sind, wie sie zu sein haben«. Als Beispiel aus der Religion – gewisserma­ßen der Urform der Ideologie – nennt Althusser die Formel »Amen«.

Neben der Religion ist ein klassische­s Beispiel für solch ein Denken jenes der Natürlichk­eit. Wo in der modernen Gesell

Wir sind es gewohnt, Ideologie nur noch als Kampfbegri­ff gegen eine »woke« oder »grüne« Weltanscha­uung zu verstehen.

 ?? ?? Ein altes Lied, immer wieder neu aufgelegt: Ideologiek­ritik mit Max
Ein altes Lied, immer wieder neu aufgelegt: Ideologiek­ritik mit Max

Newspapers in German

Newspapers from Germany