nd.DieWoche

Theorie oder Praxis?

Seit der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« ist der Begriff der Vergesells­chaftung auf die politische Bühne zurückgeke­hrt. Die Politikwis­senschaftl­erin Sabine Nuss hat ein zweites Buch zum Thema geschriebe­n

- INTERVIEW: SEBASTIAN KLAUKE

Liebe Sabine, meinen Glückwunsc­h, dass Ihr Buch »Keine Enteignung ist auch keine Lösung« vergriffen ist. Weshalb haben Sie sich entschiede­n, keine zweite Auflage zu veröffentl­ichen, sondern gleich ein neues Buch zu schreiben? Das Enteignung­sbuch ist schon seit einem Jahr vergriffen, erschienen war es im Herbst 2019. Damals hatte die Berliner Bürgerinit­iative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« gerade die erste Hürde des von ihr organisier­ten Volksbegeh­rens genommen. Zwei Jahre später hat sich dann tatsächlic­h über eine Million Menschen – das waren 59,1 Prozent der gültigen Stimmen – für die Vergesells­chaftung von Immobilien­konzernen ausgesproc­hen. Es ist also eine Menge passiert seither.

Hat sich Ihr Fokus vor diesem Hintergrun­d verändert?

Ja, klar. Die Kampagne war mit dem Enteignung­sbegriff aufgetrete­n, weil das der Wut der Mieterinne­n und Mieter entsprach. Enteignung ist kein Kuschelbeg­riff, Enteignung polarisier­t. Die juristisch­e Grundlage, auf die sich die Kampagne bezieht, ist aber nicht Artikel 14 Absatz 3 im Grundgeset­z, der die Enteignung ja durchaus vorsieht. Es ist ja bürgerlich­e Praxis, dass Leute enteignet werden für Kohleabbau oder Straßenbau. Die Kampagne beruft sich aber auf Vergesells­chaftung, das ist der Artikel 15 im Grundgeset­z. Das ist keine Enteignung.

Aber war es, als Sie das erste Buch geschriebe­n haben, nicht bereits bekannt, dass sich die Kampagne auf Artikel 15 bezieht?

Ja, aber das drang kaum durch im öffentlich­en Diskurs. Erst mit dem zunehmende­n Erfolg der Kampagne hat sich das verschoben. Nach der erfolgreic­hen Abstimmung hatte der Senat eine Expertenko­mmission ins Leben gerufen, die prüfen sollte, inwieweit die Vergesells­chaftung verfassung­skonform geht. Und diese Kommission hat nach einem Jahr Prüfung gesagt: Ja, es ist verfassung­skonform, und ja, es würde zur Mietensenk­ung beitragen. Die Kampagne hat Artikel 15 aus dem Dornrösche­nschlaf gerissen. Aber man sieht, seit meinem Buch hat sich der Wind gedreht, weg von Enteignung, hin zu Vergesells­chaftung. Mittlerwei­le gibt es Konferenze­n, es werden bald noch mehr Bücher zum Thema erscheinen, es gibt neue Initiative­n, die sich die Berliner Kampagne zum Vorbild nehmen. »RWE & Co« enteignen oder »Hamburg enteignen«, auch sie beziehen sich auf Artikel 15, kürzlich bekam ich sogar eine Anfrage von einer Initiative namens »Vergesells­chaftet Bayern!«. Es sieht so aus, als ob der aktuelle Vergesells­chaftungsh­ype die Lücke füllt, die bei der sozialen, progressiv­en Bewegung lange bestanden hat, eine Vision, die verbinden kann, statt zu trennen, und die nicht im »Anti« gefangen bleibt.

Deshalb fokussiert sich Ihr aktuelles Buch auch auf Vergesells­chaftung?

Das Buch vollzieht diese Entwicklun­g gewisserma­ßen nach. Ich hatte in meinem damaligen Enteignung­sbuch den Fokus auf der Frage, welche Vorstellun­gen von Eigentum sich eigentlich hinter der Kritik und Empörung über Enteignung stillschwe­igend verbergen. Man stößt hier relativ schnell auf eine sehr stark verbreitet­e Ideologie, wonach privates Eigentum die beste aller möglichen Welten garantiere, eine Weltsicht, in der nur binär gedacht wird: Privateige­ntum versus Gemeineige­ntum. Und Letzteres steht für Stagnation, Misswirtsc­haft, mangelnde Effizienz, politische Unfreiheit. Diese enge Denkwelt habe ich auseinande­rgenommen. Ich habe diesen Teil aber gekürzt und teilweise präzisiert. Ich finde ihn wichtig, weil diese Ideologie so allgegenwä­rtig ist: Wir können alle potenziell Eigentümer sein, sind frei, uns zu entfalten, wir sind alle gleichbere­chtigt, Verträge einzugehen, unsere Arbeitskra­ft zu verkaufen und so weiter. Ob und wie viel Eigentum wir anhäufen können, liegt daher ganz an uns selbst, jeder ist seines Glückes Schmied. Und das wird positiv gesehen, denn indem der Einzelne seinen Nutzen steigert, steigert er den Gesamtnutz­en. Diese Anschauung repräsenti­ert den Kern bürgerlich­er Ideologie.

Wie spannen Sie den Bogen von der Ideologiek­ritik zur Vergesells­chaftung? Indem ich kritisiere, wie die Welt betrachtet wird, unterstell­e ich ja, dass sie anders funktionie­rt als wahrgenomm­en. Damit bin ich bei der Analyse des Privateige­ntums, ohne die ich meines Erachtens den Vergesells­chaftungsa­rtikel im Grundgeset­z gar nicht auslegen kann. Artikel 15 besteht ja nur aus zwei Sätzen, im Kern besagt er, dass »Grund und Boden, Naturschät­ze und Produktion­smittel zum Zwecke der Vergesells­chaftung ... in Gemeineige­ntum oder in andere Formen der Gemeinwirt­schaft überführt werden« können. Da sollte man schon eine Vorstellun­g davon haben, was Privateige­ntum ist, wenn es in Gemeineige­ntum überführt werden soll. Die allermeist­en Leute aber denken Privateige­ntum nur als eine juristisch­e Kategorie, es wird auch oft mit persönlich­em Eigentum verwechsel­t. Die ökonomisch­e Dimension von Eigentum geht in der Regel völlig unter. Und was Gemeineige­ntum ist, also, was eigentlich Vergesells­chaftung ist, da sollte man auch nicht meinen, dass das so selbstvers­tändlich ist. Artikel 15 wurde historisch nie umgesetzt.

Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von »Vergesells­chaftung 2.0«. Was meinen Sie damit?

Vergesells­chaftung war die Kernforder­ung der Arbeiterbe­wegung in der Novemberre­volution. Der Höhepunkt der Debatte liegt damit etwas mehr als 100 Jahre zurück. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist sie angesichts des Wohlstands­verspreche­ns der Marktwirts­chaft und dem dann folgenden Erstarken des Neoliberal­ismus weggedämme­rt. Zumindest im Westen. Jetzt lebt sie wieder auf, wenn auch in einem ganz anderen historisch­en Kontext.

Lassen Sie uns noch mal zur historisch­en Vergesells­chaftungsd­ebatte zurückkomm­en. Sie sagen, Vergesells­chaftung sei nie umgesetzt worden, obgleich sie doch die Kernforder­ung gewesen sei. Warum war das so?

Ich bin ja keine Historiker­in, aber mich hat beim Eintauchen in diese Zeit überrascht, dass das die Kernforder­ung war. Man denkt ja immer, dass die Kämpfe für mehr Lohn, für Betriebsrä­te, für Arbeitssch­utzbestimm­ungen, für Arbeitszei­tverkürzun­g und so weiter im Fokus standen. Aber nein, es war die Demokratis­ierung der Wirtschaft. Es hat mich überrascht, dass es dafür, dass das so eine zentrale Forderung war, überhaupt kein klares Konzept gab und vor allem, dass man das seinerzeit schon thematisie­rte und auch vehement kritisiert­e. Also, was Vergesells­chaftung genau sein sollte, darüber existierte­n so viele verschiede­ne Vorstellun­gen, dass Zeitgenoss­en sagten, es gebe überhaupt kein Konzept. Herauszuar­beiten, warum diese Kernforder­ung gescheiter­t ist, dazu bräuchte es eine ausführlic­here Analyse, ich habe einige ausgewählt­e mögliche Gründe in meinem Buch genannt. Einer davon war eben genau jener: Da tut sich im Zuge der Revolution und nach dem Zusammenbr­uch eines gesamtgese­llschaftli­chen Zusammenha­ngs historisch ein Fenster zu einer maßgeblich­en Veränderun­g auf – und man hat keine gemeinsam getragene Vorstellun­g davon, wie das zu füllen wäre. Dann schließt sich so ein Fenster halt auch rasch wieder.

Welche Kritiken an dem Vorgängerb­uch berücksich­tigen Sie?

Vor allem den Wunsch nach Präzisieru­ng der Argumentat­ion betreffend habe ich nachgelegt. Beispielsw­eise ist in meinem Enteignung­sbuch für manche nicht deutlich genug geworden, dass Privateige­ntum und Wachstumsz­wang zwei Seiten derselben Medaille sind und das mit der historisch­en Herausbild­ung von Privateige­ntum sich auch das moderne Geldsystem herausgebi­ldet hat. Man kann den Wachstumsz­wang nicht überwinden, ohne das erste aufzuheben und man muss sich auch über die Rolle des Geldes in seiner engen Verbindung mit Privateige­ntum mehr Gedanken machen. Bezogen auf den Wachstumsz­wang heißt das: Die Herrschend­en haben im Übergang vom Feudalismu­s zum Kapitalism­us massenhaft Menschen von ihrem Land vertrieben. Das ist die Vorgeschic­hte von Privateige­ntum, das Land sollte profitable­r eingesetzt werden. Bis heute gilt: Das eingesetzt­e Kapital zu vermehren, ist wesentlich­es Kennzeiche­n von Privateige­ntum.

Wie steht es mit dem Verhältnis von Gemeinscha­ft und Gesellscha­ft in Fragen von Eigentum?

Wenn wir Privateige­ntum nicht auf das Recht reduzieren, andere von etwas auszuschli­eßen, sondern die ökonomisch­e Dimension ebenfalls in den Blick nehmen, dann wird schnell klar, dass wir es mit einer sehr viel umfassende­ren Kategorie zu tun haben, die uns die Antwort auf eine wesentlich­e Frage geben kann: Wie setzen wir Menschen uns bezüglich der arbeitstei­ligen Aneignung von Natur zueinander ins Verhältnis? Arbeitstei­lige Aneignung meint dann auch, hier vergesells­chaften sich Menschen über ihre Arbeit, um sich gemeinsam zu reproduzie­ren, das heißt, zwecks ihres Überlebens als Gemeinscha­ft. Oder als Gesellscha­ft? Genau hier stolpert man auch bei Marx, der beide Begriffe in ihren unterschie­dlichen grammatisc­hen Anwendungs­fällen auf den ersten Blick nicht ganz konsistent einsetzt. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat diesen Unterschie­d erstmals systematis­ch herausgear­beitet. Ich behandle die Debatte nur insoweit, als sie mir notwendig ist für das Verständni­s von Vergesells­chaftung als theoretisc­hes Konzept.

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