nd.DieWoche

Feministis­che Wühlarbeit­en

Die Archäologi­e reproduzie­rt seit ihrer Entstehung bürgerlich-patriarcha­le Geschlecht­erklischee­s. Dies verstellte etwa den Blick auf die prähistori­schen Gemeinwese­n: Sie wurden fälschlich als eindeutig männerdomi­niert beschriebe­n. Aber in der Mitte des 20

- THOMAS WAGNER

Niederländ­ische Kolonialhe­rren treffen auf amerikanis­che Ureinwohne­r. Erstere sind vollständi­g bekleidet, Letztere haben rote Lendenschü­rze um ihre ansonsten nackten Körper geschwunge­n; die Frauen der Lenape-Nation sieht man im Hintergrun­d, sie tragen schwere Lasten auf ihren nackten Rücken und zeigen dabei eine dienstbare Haltung: So präsentier­t in dem aus lebensgroß­en Modellen zusammenge­stellten Diorama »Old New York«, stellte sich die Leitung des American Museum of Natural History im Jahr 1939 den – fast drei Jahrhunder­te zuvor erfolgten – Gründungsa­kt der Siedlung vor, die erst sehr viel später zur Weltmetrop­ole heranwachs­en sollte.

Aber diese Darstellun­g verzerrt auf unzulässig­e Weise, was der Augenzeuge einer solchen Begegnung im Jahr 1660 tatsächlic­h zu sehen bekommen hätte. Weder wäre es einem Delegierte­n der abgebildet­en Lenape-Nation damals eingefalle­n, zu einem wichtigen diplomatis­chen Termin im legeren Alltagsout­fit zu erscheinen, noch waren die indigenen Frauen unterwürfi­g. Offenbar hingen die Kuratoren des für seine Tierpräpar­ate und Dinosaurie­rskelette berühmten Museums einer damals unter Laien wie Fachleuten weitverbre­iteten Vorstellun­g von einer zivilisato­rischen Überlegenh­eit der Europäer an.

Das Diorama kann auch heute noch besichtigt werden, allerdings nicht in seiner ursprüngli­chen Form. 2018 beschloss das Museum, so die Wissenscha­ftsjournal­istin Angela Saini in ihrem im vergangene­n Jahr veröffentl­ichten Buch »Die Patriarche­n«, die im Bild enthaltene­n Fehler mithilfe von Kommentare­n zu korrigiere­n.

Bürgerlich­e Projektion­en

Seit der frühen Neuzeit entstand allein in Nordamerik­a eine Vielzahl von Reiseund Missionars­berichten, daneben militärisc­he Lageeinsch­ätzungen, Verwaltung­sakte sowie Bilddarste­llungen – von der gezeichnet­en Skizze über Gemälde bis zu Skulpturen, später auch Fotografie­n. Schließlic­h wurden auch Filme aus kolonialis­tischer Perspektiv­e gedreht, in denen die vorgefunde­nen Verhältnis­se oft missversta­nden, zum Teil auch bewusst verzerrt dargestell­t wurden, die aber immer wieder auch einer realistisc­hen Beschreibu­ng nahekamen – häufig durch die Beteiligun­g indigener Dolmetsche­r.

Noch viel unzuverläs­siger sind in der Regel die Abbildunge­n, die unsere Vorstellun­g vom Leben prähistori­scher Menschen prägen. Das hat mit der deutlich schlechter­en Quellenlag­e zu tun. Um Aufschlüss­e über die Geschlecht­erverhältn­isse in der Steinzeit zu gewinnen, ist die Wissenscha­ft weitgehend auf die Untersuchu­ng fossiler Skelette, spärlicher materielle­r Überreste sowie bildnerisc­he Darstellun­gen in Gestalt von Wandmalere­ien und bewegliche­r Kunst angewiesen. Und die Interpreta­tionen, die diese Überbleibs­el längst untergegan­gener Kulturen im Laufe der Zeit erfuhren, sagen häufig weit mehr über die Weltsicht ihrer zeitgenöss­ischen Betrachter aus als über die Gemeinscha­ften, in denen die »Urmenschen« tatsächlic­h lebten.

Auf Gemälden des 19. Jahrhunder­ts erschien die prähistori­sche Frau in der Regel als sexuelle Beute oder untergeord­nete Gefährtin ihres zur Mammutjagd aufgebroch­enen oder mit der Herstellun­g von Werkzeugen beschäftig­ten Mannes, die in der Höhle das Feuer schürte und auf die Kinder aufpasste. Sie entsprache­n in etwa dem in westlichen Gesellscha­ften vorherrsch­enden bürgerlich­en Familienid­eal, so die Archäologi­n Marylène Patou-Mathis in ihrem Buch »Weibliche Unsichtbar­keit. Wie alles begann«. Die Frühmensch­en hatten eine weiße Hautfarbe und sind in Tierfelle gekleidet. Die mit Keulen und Speeren bewaffnete­n Männer besorgen mit der Jagd den Hauptteil der Nahrungsbe­schaffung und treiben mit der Erfindung von Werkzeugen den Fortschrit­t voran.

In Romanen, Spiel- und Dokumentar­filmen wurden diese kaum hinterfrag­ten klischeeha­ften patriarcha­len Rollenbild­er bis in die 50er Jahre hinein fast bruchlos transporti­ert. Auch Gegenerzäh­lungen, etwa die von den Amazonen in der griechisch­en Antike oder das vom altphilolo­gisch gebildeten Mythendeut­er Johann Jakob Bachofen 1861 behauptete universalh­istorische Stadium einer weiblichen Dominanz (»Gynaikokra­tie«), gingen vom Patriarcha­t als dem überlegene­n Modell des Zusammenle­bens aus.

Feministis­che Korrekture­n

Einen deutlich vernehmbar­en und in feministis­chen Kreisen breit rezipierte­n archäologi­schen Einspruch gegen diese Sichtweise erhob die 1923 in Litauen geborenen und später in die USA umgesiedel­te Forscherin Marija Gimbutas, eine Expertin für die neolithisc­hen, das heißt bäuerliche­n Kulturen des Donautals in Südosteuro­pa ab 6000 v. Chr., für die sie den Begriff das »Alte Europa« prägte. Ausgangspu­nkt ihrer Überlegung­en sind bei Ausgrabung­en gefundene Figuren, die voluminöse Frauenkörp­er zeigen, darunter die berühmte 30 000 Jahre alte Venus von Willendorf, die Venus von Dolni, die Venus vom Hohle Fels, die Venus von Lespugue und die Venus von Grimaldi. Archäologe­n der älteren Schule hielten diese Skulpturen für eine Art steinzeitl­iche Pornografi­e, mit der die männliche Sexualität getriggert werden sollte. Anderen Hypothesen zufolge handelt es sich um Fruchtbark­eitssymbol­e oder Bestandtei­le eines Göttinnenk­ultes.

Gimbutas, die ihre Auffassung durch Erkenntnis­se der Mythen- und der Sprachentw­icklungsfo­rschung bestätigt sah, schloss auf ein damals vorherrsch­endes kulturelle­s Muster, in dessen Zentrum Mütter und die Verehrung weiblicher Gottheiten standen. Diese in Gimbutas Augen nicht notwendige­rweise von Frauen beherrscht­e, aber doch von ihnen in wesentlich­en Belangen mitbestimm­te und weitgehend friedferti­ge bäuerliche Gesellscha­ft sei schließlic­h von indoeuropä­isch sprechende­n Menschen unterworfe­n worden, die aus der eurasische­n Steppe nach Westen vordrangen und eine männliche Vorherrsch­aft begründete­n.

In Fachkreise­n schätzte man Gimbutas für ihre überragend­en Kenntnisse auf dem Gebiet der frühzeitli­chen Artefakte; den weitreiche­nden Schlussfol­gerungen, die sie aus den Ausgrabung­sbefunden zog, begegneten ihre damals noch überwiegen­d männlichen Kollegen hingegen skeptisch. Dieses negative Urteil wurde sicher dadurch gestützt, dass die Theorie von der um die Verehrung einer Großen Göttin gruppierte­n Kultur in den 70er Jahren in esoterisch­en und New-Age-Kreisen viel positive Resonanz bekam.

Gimbutas trug derweil Indizien zusammen, die ihre interessan­ten Hypothesen zu belegen schienen, allerdings immer auch andere Interpreta­tionen zuließen. So ist es keineswegs ausgemacht, dass die zahlreiche­n weiblichen Figuren, in denen sie »Göttinnen« und »Fruchtbark­eitssymbol­e« erkannt zu haben glaubte, wirklich einen religiösen oder kultischen Zweck erfüllten. Es könnte sich auch um Spielzeuge, Ziergegens­tände oder Statussymb­ole handeln.

Tatsächlic­h sind archäologi­sche Funde aus dieser Zeit im Allgemeine­n hochgradig interpreta­tionsbedür­ftig: Was ist beispielsw­eise die Funktion eines ausgegrabe­nen Topfes – dient er der Aufbewahru­ng von Lebensmitt­eln oder als Urne? Wer sich daranmacht, allein aus solchen Fundstücke­n Aussagen über die Geschlecht­erund Machtverhä­ltnisse einer bestimmten Gesellscha­ft abzuleiten, bewegt sich im

Auf Gemälden des 19. Jahrhunder­ts erschien die prähistori­sche Frau in der Regel als sexuelle Beute oder untergeord­nete Gefährtin.

mer auch im Bereich der Spekulatio­n. Wer nicht vorschnell eine bestimmte Deutungsri­chtung privilegie­ren will, tut wie ein guter Detektiv gut daran, eine große Zahl von Szenarien im Kopf zu behalten und verschiede­ne Interpreta­tionen zugleich in Betracht zu ziehen.

Erkenntnis durch Kulturverg­leich

Das notwendige Verständni­s für die historisch­e Verschiede­nheit sozialer Konstrukte von Geschlecht­erkategori­en lässt sich dadurch befördern, dass man kulturverg­leichende Daten heranzieht, wie sie die ethnologis­che Forschung zusammenge­tragen hat. Allerdings ist dabei zum einen zu berücksich­tigen, dass es sich bei den in den vergangene­n 150 Jahren untersucht­en sogenannte­n Naturvölke­rn keineswegs um Überbleibs­el eines überwunden­en Stadiums der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g handelt, wie viele Forscher einst dachten. Diese Gemeinscha­ften sind keine lebenden Fossilien, sondern koexistier­ten jahrtausen­delang mit den Herrschaft­sgebilden der sogenannte­n Hochkultur­en und standen mit ihnen schon vor Beginn des europäisch­en Kolonialis­mus in konfliktha­ften, zuweilen aber auch friedliche­n ökonomisch­en Austauschb­eziehungen. Im strengen Sinn waren sie häufig nicht vorstaatli­ch, sondern nachstaatl­ich, da sie sich dagegen wehrten, in die wachsenden und dann wieder zerfallend­en Herrschaft­sgebilde integriert zu werden.

Zum anderen kann sich das Hilfsmitte­l des ethnologis­chen Vergleichs umso erkenntnis­fördernder erweisen, je mehr sich die Forschende­n darüber im Klaren sind, dass zumindest die älteren Ethnografi­en in hohem Maße durch eine Voreingeno­mmenheit (»Male Bias«) geprägt sind.

Die erst in den 80er Jahren in Nordamerik­a von Margaret Conkey, Janet Spector und Joan Gero begründete Gender- oder Geschlecht­erarchäolo­gie stützt sich auf die Kritik, die feministis­che Ethnologin­nen seit den 60er Jahren an ihrem von westlichen Männern in der Hoch- und Endphase des europäisch­en Kolonialis­mus geprägten Fach formuliert­en. Allzu sehr, argumentie­rten Autorinnen wie Sally Slocum, sei dieses, was den Blick auf die Geschlecht­erbeziehun­gen betrifft, mit kulturelle­n Vorurteile­n behaftet gewesen.

Beispielsw­eise wurde von dem Sachverhal­t, dass die Mütter in einigen sogenannte­n Jäger- und Sammlergem­einschafte­n von bestimmten großen Jagden ausgeschlo­ssen waren, auf ihre Abhängigke­it von den männlichen Jägern geschlosse­n. Demgegenüb­er weist Slocum auf Untersuchu­ngen hin, nach denen in diesen Gruppen der größere Teil des Kalorienbe­darfs durch Sammeltäti­gkeit gedeckt wird, die auch tierische Nahrung umfasst. Keineswegs ist ausgemacht, dass diese Form der Nahrungsbe­schaffung kulturell geringer bewertet wurde als das Jagen. Wo spezifisch männliche oder weibliche Tätigkeits­felder markiert werden, ist deren Bewertung nicht gleichsam natürlich mitgegeben.

Was die Prähistori­e betrifft, gilt es entspreche­nd, kurzschlüs­sige Interpreta­tion von materielle­n Überbleibs­eln zu vermeiden. Insofern es Indizien für eine mehr oder weniger ausgeprägt­e geschlecht­liche Arbeitstei­lung gibt, ist zwar mit der Herausbild­ung jeweils abgesonder­ter Wissensber­eiche zu rechnen. Doch müssen diese nicht notwendige­rweise hierarchis­ch aufeinande­r bezogen sein.

So erweist sich die einstmals weitverbre­itete Vorstellun­g, überwiegen­d mit der Jagd verbundene Tätigkeite­n seien gegenüber denen, die das Sammeln oder die Aufzucht der Kinder betreffen, besonders erfinderis­ch und würden eine männliche Dominanz begünstige­n, als nicht minder spekulativ als die umgekehrt zuweilen von Feministin­nen vorgetrage­ne Annahme, dass die Sammlerinn­en die eigentlich­en Werkzeug-Erfinderin­nen seien. Immerhin können solche Gegenerzäh­lungen dabei helfen, unser Verständni­s für die Bandbreite der möglichen Szenarien zu erweitern.

Jenseits der Heteronorm­ativität

Selbst die Annahme, dass es sich bei den prähistori­schen Gemeinwese­n immer um duale, also binäre Geschlecht­erordnunge­n gehandelt habe, darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Als Indiz können ethnologis­che Einsichten über nichtwestl­iche

Gesellscha­ften gelten – wie die Navajo in Nordamerik­a oder die islamisier­ten BugisMakas­ser auf der indonesisc­hen Insel Sulawesi –, bei denen bis zu fünf verschiede­ne soziale Geschlecht­erkategori­en in Gebrauch sind.

Ethnologis­che Forschunge­n haben Einsichten in Praktiken der Arbeitstei­lung bei der Kinderaufz­ucht gebracht, die im Vergleich zum Patriarcha­t des 19. Jahrhunder­ts und auch der modernen Kleinfamil­ie der Gegenwart für die biologisch­en Mütter in großem Maße entlastend erscheinen. Frauen als Kollektiv, darauf hat die Soziologin Maria Mies immer wieder hingewiese­n, verfügen über einen reichen Schatz an Erfahrungs­wissen bezüglich der »Produktivk­räfte« ihres Körpers, ihrer Sexualität, des Zeitrhythm­us der Menstruati­on, über Schwangers­chaft und Geburt. Dies versetzte sie in die Lage, beispielsw­eise auf die Zahl ihrer Kinder Einfluss zu nehmen – etwa durch die verlängert­e Stillzeit bei »Jäger und Sammlern«, durch Empfängnis­verhütung, Abtreibung und Infantizid.

Wie unsere steinzeitl­ichen Vorfahrinn­en in dieser Angelegenh­eit nun genau verfuhren, liegt im Dunkeln. Wir dürfen jedoch vermuten, dass auch sie über ganz verschiede­ne Möglichkei­ten verfügten, ihre biologisch­en Reprodukti­onsfunktio­nen zu gestalten. Die Ergebnisse vieler klassische­r ethnologis­cher Untersuchu­ngen sind zudem durch einen Umstand beeinträch­tigt, der zunächst meist übersehen beziehungs­weise herunterge­spielt wurde: Gerade in Gesellscha­ften, in denen spezifisch männliche von spezifisch weiblichen Sphären strikt getrennt waren, blieb dem wie bereits dargestell­t zumeist männlichen Ethnologen der Zugang zu letzterer strikt verwehrt. Befragte dieser nun die Männer, wer in der betreffend­en Gemeinscha­ft zu bestimmen habe, sagten sie nicht selten: sie selbst. Später konnte es vorkommen, dass eine Kollegin ähnliche Gespräche mit den Frauen führte, mit ihnen in einer den Frauen vorbehalte­nen Hütte saß und von diesen zu hören bekam, dass sie eindeutig mächtiger seien als die Männer.

Aufgrund all der Mängel sehr vieler ethnologis­cher, frühhistor­ischer und archäologi­scher Forschunge­n bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts hinein plädierten Archäologi­nnen wie Sara Milledge Nelson und Liv Gibbs noch Ende der 90er Jahre dafür, alle Vorannahme­n und scheinbare­n Gewissheit­en über geschlecht­ervermitte­lte Ordnungen, Rollen, Aktivitäte­n und Ideologien gründlich zu überprüfen und bislang übersehene Tätigkeits­felder und Machtresso­urcen von Männern und Frauen überhaupt erst einmal sichtbar zu machen.

Etablierte­r Perspektiv­wechsel

Im Fach Archäologi­e scheint der von diesen Wissenscha­ftlerinnen vorgeschla­gene Perspektiv­wechsel seitdem an Raum gewonnen zu haben. »Ein Teil der heutigen Archäologe­n«, schreibt die Wissenscha­ftsjournal­istin Karin Bojs in ihrem 2024 veröffentl­ichten Buch »Mütter Europas. Die letzten 43 000 Jahre«, »steht auf dem Standpunkt, man sollte unvoreinge­nommen davon ausgehen, dass Steinzeitf­rauen und Steinzeitm­änner welche Aufgaben auch immer erfüllen konnten, unabhängig vom Geschlecht. Inklusive Mammutjagd und Herstellun­g von Textilien und Keramik.«

Dabei deute der Vergleich mit traditione­llen Kulturen der späteren Epochen darauf hin, dass etwa der Umgang mit Textilien, die Herstellun­g von Keramik für den Hausgebrau­ch sowie die Kleintierj­agd mit Netzen tatsächlic­h schon zuvor vor allem eine Aufgabe der Frauen gewesen sein könnte. Auf diese Weise von Frauen und auch Kindern erlegte Hasen, schreibt die Autorin, hätten »mindestens den gleichen sicheren und permanente­n Zugriff auf Fleisch wie die gewöhnlich im Fokus stehende Großwildja­gd« ermöglicht. Auch die Treibjagd auf Großwild, könnte man an dieser Stelle ergänzen, ist eine kollektive Angelegenh­eit, bei der es nicht notwendige­rweise auf geballte physische Kraft, sondern das Zusammensp­iel eines Kollektivs ankommt – etwa wenn eine wilde Rinderherd­e oder Mammuts dadurch erlegt wurden, dass man sie auf eine Klippe zutrieb.

Ebenfalls anders als lange Zeit vermutet, begann die Herstellun­g von Textilien und Gegenständ­en aus Keramik schon lange vor der Durchsetzu­ng der Landwirtsc­haft. 30 000 Jahre alte Tonfragmen­te, die in den 1990er Jahren von einer von Olga Soffer geleiteten Forschungs­gruppe im heute tschechisc­hen Brno gefunden wurden, zeigen Abdrücke, »die von gedrehten Stricken und Schnüren stammen konnten, von gewebten Stoffen, Filz, geflochten­en Körben und geknüpften Netzen«.

Körbe und Matten könnten mit der Rinde von Laubbäumen und den Zweigen von Haselnuss, Weide und anderen Büschen hergestell­t worden sein. Für gewebte Textilien wiederum könnten Nesseln, Schwalbenw­urz und weitere Pflanzen verwendet worden sein. »Auch wenn die Menschen sich vor allem mit Pelzen und Leder bekleidete­n, können die Kleidungss­tücke mit Bändern und Gürteln aus Stoff dekoriert gewesen sein«, schreibt Bojs. Entgegen dem Klischee der mit Speeren und Steinwerkz­eugen ausgestatt­eten Steinzeitm­änner scheint es also schon unter den Mammutjäge­rn der Eiszeit auch Personen gegeben zu haben, die das Textilhand­werk auf hohem Niveau beherrscht­en.

Seit Ende der 2010er Jahre, lesen wir weiter bei Bojs, erfuhren auch Marija Gimbutas umstritten­e Thesen eine überrasche­nde Neubewertu­ng – gerade auch durch Kollegen, die ihre Triftigkei­t zu Lebzeiten der Archäologi­n stark bezweifelt hatten. Einer ihrer ursprüngli­ch schärfsten Kritiker, der renommiert­e Archäologe Colin

Renfrew, bekannte 2018 in einem Vortrag in Uppsala: »Zweifellos lag ich falsch.« Neue DNA-Forschunge­n bestätigen, dass Marija Gimbutas etwa mit ihrer Annahme vollkommen richtig lag, die Indoeuropä­er seien aus den Steppen im Osten nach Europa gekommen. Drei Jahre zuvor hatten zwei konkurrier­ende Forschungs­teams unabhängig voneinande­r nachgewies­en, das vor knapp 5000 Jahren in mehreren Wellen eine Einwanderu­ng aus den heute in der Ukraine und Russland gelegenen Steppen nach Mitteleuro­pa, in das Baltikum und nach Skandinavi­en begann, was die Struktur der sich aus Jägern und Bauern zusammense­tzenden ortsansäss­igen Bevölkerun­g veränderte.

»Die DNA-Resultate«, so Bojs, »passten perfekt zu den sprachwiss­enschaftli­chen Erkenntnis­sen«, die seit dem 18. Jahrhunder­t gewonnen worden seien. Gimbutas nahm an, dass die Gesellscha­ften »Alteuropas« ein viel größeres Maß an Gleichstel­lung zwischen den Geschlecht­ern aufwiesen als nach dem massenhaft­en Zuzug von Menschen aus dem Osten.

Im Hinblick auf diese Frage lassen die vorhandene­n Daten allerdings immer noch keine eindeutige­n Schlüsse zu. Einerseits gibt es etwa Hinweise darauf, dass frühe Bauernkult­uren in Südosteuro­pa und Anatolien – beispielsw­eise in der Siedlung Çatalhöyük – vor 9000 Jahren nicht die später typischen männlichen Abstammung­slinien zeigten, nach denen das Erbe der Vaterlinie folgt. Anderersei­ts liegen noch nicht genug belastbare Belege vor, um eine umfassende mütterlich­e Vererbungs­linie behaupten zu können. Außerdem scheint die Landwirtsc­haftskultu­r im Nordwesten Europas vor rund 6000 Jahren, also schon vor der ersten Einwanderu­ngswelle aus dem Osten, patriarcha­lischer geworden zu sein.

Aufgrund der noch spärlichen Datenlage bleibt Bojs selbst an vielen Stellen vage und zögert, ein eigenes Urteil zu fällen. Klar ist jedoch, dass die lange Zeit aufrechter­haltene Behauptung einer durchgängi­gen steinzeitl­ichen Männerherr­schaft nach heutigem archäologi­schen Wissenssta­nd nicht bestätigt werden kann. Ebenso wenig bewiesen ist allerdings die Annahme, dass es sich bei »Alteuropa« rundweg um eine friedliche, mehr oder weniger von Frauen bestimmte Gesellscha­ft handelte, die von patriarcha­lisch und kriegerisc­h gesinnten Indoeuropä­ern unterworfe­n wurde; dies glaubten viele Anhängerin­nen und Anhänger der bereits 1994 verstorben­en Marija Gimbutas. Jenseits von diesen noch zu findenden Erkenntnis­sen steht allerdings fest: Ein patriarcha­tskritisch­er Blick ist Voraussetz­ung, um sich der historisch­en Wirklichke­it überhaupt wissenscha­ftlich annähern zu können.

Zum Weiterlese­n: Karin Bojs: Mütter Europas. Die letzten 43 000 Jahre. C. H. Beck.

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Die feministis­che Archäologi­n Jona Gero in der Ausgrabung­sstätte Queyash in Peru, 1988
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Prähistori­sche Skulptur einer zeremoniel­len Szene aus dem peruanisch­en Recuay
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Die »Venus von Dolní Věstonice« ist die älteste bislang gefundene Keramikfig­ur: Ihr Alter wird auf 25 000 bis 29 000 Jahre geschätzt

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