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Siemensbah­n für die Siemenssta­dt

Die letzte während der Teilung Berlins stillgeleg­te S-Bahnstreck­e soll bis 2029 reaktivier­t werden. Das freut nicht alle Anwohner

- ANDREAS FRITSCHE

Wo die Nonnendamm­allee in den Siemensdam­m übergeht, steht und fließt der Autoverkeh­r auf acht Spuren. Unterirdis­ch rattern die Züge der Berliner U-Bahnlinie 7 heran und halten an der Station Siemensdam­m. Fahrgäste laufen die Aufgänge hoch und hinunter. Es ist eine quirlige, laute Gegend.

Doch schon wenige Schritte nach Norden ein ganz anderes Bild: An den schmalen Straßen der alten Werkssiedl­ungen des Siemenskon­zerns parken jede Menge Pkw, aber es fahren nur ab und zu welche hin und her. An der kleinen Grünanlage Jugendplat­z haben sich Anwohner für ein Schwätzche­n auf den Bänken niedergela­ssen. Es gibt Straßen, die von Wohnhäuser­n überspannt sind – und von Viadukten, auf denen Bäume und Sträucher wachsen. Dort oben verläuft die Trasse einer 1928 in Betrieb genommenen S-Bahnlinie von Jungfernhe­ide über Wernerwerk und Siemenssta­dt nach Gartenfeld. Aber dort verkehren bereits seit 1980 keine Züge mehr.

Bis 1980 befand sich die S-Bahn in ganz Berlin in der Verfügungs­gewalt der Reichsbahn, die in der DDR fortbestan­d, während in der BRD im September 1949 die Bundesbahn gegründet wurde. Nur vier Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 begannen Westberlin­er dieses günstige Verkehrsmi­ttel in Frontstadt­manier zu boykottier­en. Parole: Kein Pfennig für SED-Generalsek­retär Walter Ulbricht, denn jeder Westberlin­er S-Bahnkunde bezahle mit seinem Fahrschein den Stacheldra­ht, mit dem die Grenze zunächst gesichert wurde. Die Leute stiegen lieber in die U-Bahn, für die neue Linien zum Teil fast parallel gebaut wurden. Die Verlängeru­ng der U7 bis Rohrdamm wurde 1980 eröffnet, die bis Rathaus Spandau 1984.

1928, bei der Inbetriebn­ahme der sogenannte­n Siemensbah­n mit den Stationen Wernerwerk, Siemenssta­dt und Gartenfeld, zählte Berlin knapp 4,3 Millionen Einwohner. 1944 rutschte die Bevölkerun­gszahl unter die Marke von vier Millionen. Das mit der Wiedervere­inigung prognostiz­ierte Wachstum blieb in den 90er Jahren aus. Es gab dann zeitweise sogar nur weniger als dreieinhal­b Millionen Einwohner. Doch mittlerwei­le wächst und wächst die Zahl, ist schon bei fast 3,9 Millionen angelangt und soll voraussich­tlich 2035 die Marke von vier Millionen wieder knacken, 2070 mit 4,4 Millionen sogar fast den Rekordstan­d von knapp 4,5 Millionen Einwohnern des Jahres 1942 erreichen.

Die Berliner und die Berufspend­ler aus dem Umland merken es schon an immer mehr und immer längeren Staus auf den Straßen und brechend vollen Zügen im Berufsverk­ehr. Da ergibt es für Michael Wollitz von der Planungswe­rkstatt Neue Siemenssta­dt durchaus Sinn, die Siemensbah­n zu reaktivier­en. Denn in der U7 sitzen und stehen die Fahrgäste nicht selten dicht gedrängt. Da könnte die S-Bahn für Entlastung sorgen. Die Meinungen darüber gehen in der von zehn bis 15 aktiven Anwohnern getragenen Planungswe­rkstatt allerdings auseinande­r.

Hans-Ulrich Riedel etwa hält die SBahn wegen der U7 für überflüssi­g, wie er am Mittwochab­end bei einer von der Planungswe­rkstatt organisier­ten Anwohnerve­rsammlung sagt. 50 Interessie­rte sind im Saal der evangelisc­hen Kirchengem­einde am Schuckertd­amm zusammenge­kommen. Riedel spielt ihnen zur Begrüßung den Signalton beim Türenschli­eßen der neusten SBahnen vor. Dieses belästigen­de Geräusch werden die Anwohner der 4,5 Kilometer langen Strecke künftig 124 Mal am Tag je Richtung ertragen müssen, warnt er. Die fahrenden Züge würden einen Schallpege­l von rund 64 Dezibel erzeugen und damit etwa so laut sein wie ein Rasenmäher.

Für einen der Männer im Saal ist das alles eine Horrorvors­tellung. Denn er lebt in einem 1984/85 an der Station Gartenfeld errichtete­n Haus – das Schlafzimm­er und der Balkon nur fünf Meter von den Gleisen entfernt. So nah hätte kein Wohnhaus eine Baugenehmi­gung erhalten, wenn seinerzeit nicht vermutet worden wäre, dass dort niemals wieder Züge verkehren, glaubt Riedel, der als Geschäftsf­ührer der Linksfrakt­ion in der Spandauer Bezirksver­ordnetenve­rsammlung tätig ist.

Dass es nun doch dazu kommen soll, liegt nicht zuletzt an einem Vorhaben des Siemenskon­zerns. Er möchte in der Siemenssta­dt einen sogenannte­n Square errichten, ein Viertel mit Büros und Gewerbe, 3000 Wohnungen, einer Schule und Kitas. Der Bundestags­abgeordnet­e Helmut Kleebank (SPD) weiß aus seiner früheren Verwendung als Bezirksbür­germeister etwas über die Zusammenhä­nge. Es seien verschiede­ne Standorte weltweit für diesen Square im Gespräch gewesen. Hätte sich das Land Berlin nicht bereit gefunden, die

Reaktivier­ung der S-Bahnstreck­e zu bezahlen, hätte es leicht sein können, dass Siemens woanders investiert.

Doch die gepriesene Möglichkei­t, in die Siemensbah­n einzusteig­en und in 38 Minuten am Hauptstadt­flughafen BER in Schönefeld zu sein, kann Hans-Ulrich Riedel nicht überzeugen. Er hat es ausprobier­t. Mit den bestehende­n Bahnverbin­dungen sei es in 45 Minuten zu schaffen. Auf dem parallel geführten Abschnitt wäre die S-Bahn nur eine Minute schneller als die U-Bahn – wenn sie denn mit Höchstgesc­hwindigkei­t fährt. Für bis zu 80 Kilometer in der Stunde soll die Trasse ausgebaut werden. Aber teils müsste das Tempo auf 60 Stundenkil­ometer gedrosselt werden, sagt Riedel.

Er spricht von Kosten in Höhe von 880 Millionen Euro und hält das für eine Verschwend­ung von Steuergeld. Ein Schildbürg­erstreich sei die Idee, die Strecke später über Gartenfeld hinaus bis nach Hakenfelde zu verlängern und dafür eventuell in einen Tunnel zu schicken. Denn um abzutauche­n, müsste der Bahndamm dann rückwärts bis Siemenssta­dt aufgebudde­lt werden. Riedel glaubt allerdings nicht, dass es dazu kommt. Er vermutet, dass es früher oder später auffallen werde, dass die Verlängeru­ng bis Hakenfelde unnötig sei. Günstiger sei eine Erschließu­ng per Straßenbah­n vom ehemaligen Flughafen Tegel her. Auch dazu gibt es bereits Überlegung­en.

In der Projektbes­chreibung der Deutschen Bahn (DB) sind 500 Millionen Euro veranschla­gt, allerdings Stand 2021. Bekanntlic­h sind die Baupreise seitdem erheblich gestiegen. Was das für die Siemensbah­n bedeutet, kann DB-Sprecher Gisbert Gahler aber nicht beziffern. »Das Vorhaben befindet sich noch in der Planungsph­ase. Da der Markt in Bewegung ist, ist es wenig hilfreich, in kurzen Abständen neue Prognosen zu erstellen«, erläutert er. »Abgerechne­t wird, wenn alle Kosten bekannt sind.«

2025 sollen die ersten vorbereite­nen Baumaßnahm­en starten, 2026 würde es dann richtig losgehen und 2029 soll die Verbindung von Jungfernhe­ide nach Gartenfeld stehen. Rund 30 Brücken müssen dafür saniert oder neu gebaut werden, da seit 1980 auch einzelne Brücken abgerissen worden sind. Die historisch­en Bahnhöfe sollen aus ihrem Dornrösche­nschlaf geweckt und barrierefr­ei gestaltet werden. Dem Lärmschutz sollen Matten unter dem Schotter und Schienen-Schmieranl­agen dienen. Vorteil des Vorhabens: Da die Strecke offiziell all die Jahre seit 1980 bestand und dort quasi nur vorübergeh­end keine Züge verkehrten, braucht es kein Planfestst­ellungsver­fahren, das allein mindestens zehn Jahre erfordern würde. Hier braucht es die zehn Jahre von den ersten Überlegung­en im Jahr 2019 bis zur Realisieru­ng, geht also bedeutend schneller.

»Wir haben noch bis 2026 Zeit«, sagt Riedel. »Genau wissen wir es nicht, aber so ungefähr.« Es wäre vielleicht ratsam, Geld für einen Rechtsanwa­lt zu sammeln, um juristisch­en Sachversta­nd einzuholen und sich gerichtlic­h wehren zu können, meint Riedel. Er hat von einem Bürger einen Brief erhalten, in dem dieser mitteilt, an den Krach werde man sich gewöhnen. Er freue sich auf die S-Bahn. Da dieser Anwohner mutmaßte, Riedel werde dieses Schreiben auf der Versammlun­g nicht vortragen, tut Riedel es erst recht, um das Gegenteil zu beweisen.

»Wir werden hier nicht nach Hause gehen und eine Lösung haben«, hatte Riedel zu Beginn des Treffens wissen lassen. Man wolle zunächst Vorschläge sammeln. Einer gefällt Riedel sehr gut: Eine Frau wünscht sich statt Gleisen einen Radschnell­weg auf dem Bahndamm.

»Abgerechne­t wird, wenn alle Kosten bekannt sind.«

Gisbert Gahler

Bahnsprech­er

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