nd.DieWoche

Stille Heldinnen

Vor 90 Jahren gründeten Männer in Barmen die Bekennende Kirche, die an der Basis aber eine Frauenkirc­he war

- KARSTEN KRAMPITZ

Um von den Schrecken der Nazizeit authentisc­h erzählen zu können – gerade im Hinblick auf das, was jüdischen Menschen angetan wurde –, reicht die Sprache der Worte nicht aus, jedenfalls nicht der deutschen, die immer auch die Sprache der Täter ist. Begriffe wie »Rasse«, »Arier« und »Nichtarier« waren konstituie­rend für die antisemiti­sche Gesellscha­ft des NS-Regimes. Die heute vergessene Schriftste­llerin Etta von Oertzen hat es zumindest versucht. Sie hat über den Berliner Alltag der in Anspielung auf den gelben Judenstern »Besternte« Genannten im Herbst des Jahres 1941 geschriebe­n:

»Fünf Wochen sind vergangen, seit der Einführung des Sterns. Berlin hat sich bereits an die diffamiere­nde Kennzeichn­ung gewöhnt. ›Besternte‹ müssen an den Türen der Elektrisch­en und Autobusse, an den Schaltern und Eingängen vor den ›Ariern‹ zurücktret­en, müssen in den Bahnen aufstehen, sowie ein ›Arier‹ keinen Sitzplatz hat.« Es seien Belanglosi­gkeiten, verglichen mit den Schrecknis­sen später. Hin und wieder komme es vor, dass jemand ostentativ aufsteht und einem »Besternten« seinen Sitzplatz anbietet. Aber aufs Ganze gesehen, habe man die groteske mittelalte­rliche Brandmarku­ng akzeptiert, ist zur Tagesordnu­ng übergegang­en. »Die Kinder heften sich die herunterfl­atternden gelben Linden- und Ahornblätt­er an ihre Spielschür­zen und spielen ›Jude‹ …«

Die 1972 verstorben­e Etta von Oertzen gehörte der Bekennende­n Kirche an. Die Theologin Katrin Rudolph zählt sie in ihrer Dissertati­on zum Helferkrei­s um den Juristen Franz Kaufmann. Der wegen seiner jüdischen Herkunft zwangspens­ionierte ehemalige Oberregier­ungsrat besorgte verfolgten Menschen gefälschte Ausweise und Lebensmitt­elkarten, auch half er bei der Suche nach Zufluchtsa­dressen. Die Nazis sollten ihn später schwer misshandel­n und in Sachsenhau­sen ermorden.

Katrin Rudolph erzählt in ihrem Buch »Hilfe beim Sprung ins Nichts« (Metropol) davon. Bei der Recherche stieß die heutige Superinten­dentin von ZossenFläm­ing in einem Züricher Archiv auf das Romanmanus­kript von Etta von Oertzen. Darin erzählt die Autorin in der Figur der Jenny Jacobson vom Schicksal der Ingeborg Jacobsen, einer Protestant­in jüdischer Herkunft und Mitarbeite­rin im »Büro Pfarrer Grüber«, das bis Kriegsbegi­nn über 1000 Christen jüdischer Herkunft zur Ausreise verhalf. Wie Etta von Oertzen war auch Ingeborg Jacobsen Mitglied der Bekennende­n Kirche; sie starb in Auschwitz. »Bilder aus dem Berliner Pogrom«, heißt es im Romantitel.

»Jenny Jacobson soll heute um 11 Uhr bei Pfarrer Zimmermann zu einer Besprechun­g

sein. Als sie spät und hastig wie gewöhnlich einen Fahrdamm kreuzen will, kommt ein kleines Mädchen an sie heran: ›Tante Jude, bring mich bitte über den Damm, ich hab Angst.‹ Einen Augenblick zuckt es in Jennys Hand, sie will zuschlagen, sieht dann in das harmlose, etwas ängstliche Gesicht des Kindes, sieht hinüber zu der Gruppe der anderen Kinder, die laut und unbehellig­t weiterspie­len. Ein Schupo, der sie wegen Umgangs mit Ariern festhalten könnte, ist nicht in Sicht, so nimmt sie schnell die Hand der Kleinen und geht mit ihr über den Damm. Das Kind springt munter davon …«

Der Schweizer Theologe Karl Barth, die Pfarrer Martin Niemöller und Helmuth Gollwitzer, der von den Nazis ermordete Dietrich Bonhoeffer: Sie sind die bekannten Helden des Kirchenkam­pfes in der Nazizeit. Tatsächlic­h aber war die Bekennende Kirche, die sich vor 90 Jahren in Barmen gegründet hatte, eine von Männern, vornehmlic­h Pfarrern, geleitete Frauenkirc­he, sagt der Berliner Historiker Manfred Gailus. Drei Viertel ihrer Mitglieder in Berlin seien Frauen gewesen, die dann im Gottesdien­st die politisch brisanten Fürbittenl­isten verlesen hätten, für die Kollekte sorgten, Bibelkreis­e aufbauten und vor allem Lebensmitt­elmarken und Lebensmitt­el sammelten für im Untergrund lebende Juden und »nichtarisc­he« Christen.

Eine dieser mutigen Frauen war die Geschichts­und Religionsl­ehrerin Elisabeth Schmitz, deren Biografie Manfred Gailus verfasst hat. Seit Beginn der Hitlerdikt­atur habe sie sich für verfolgte Juden und Jüdinnen engagiert. Immer wieder habe sie ihre Kirche aufgeforde­rt, sich solidarisc­h zu erklären.

1935 verfasst Elisabeth Schmitz eine »Denkschrif­t zur Lage der deutschen Nichtarier«. Darin rechnet sie mit dem NSStaat ab, aber auch mit dem Schweigen der Bekenntnis­theologen: »Die Bekennende Kirche hat sich feierlich zu ihrem Wächteramt nach Hesekiel bekannt. Will sie sich nicht erbarmen über ihre Glieder und ihren Wächterruf erschallen lassen, um Augen zu öffnen und Gewissen wachzurütt­eln? Der Feind – die Vergötzung von Blut und Rasse – steht drohend unmittelba­r vor der Mauer…« Und schon 1935 quält Schmitz eine dunkle Ahnung. Aus Schweden sei ein vernichten­des Wort berichtet worden: »Die Deutschen haben einen neuen Gott, das ist die Rasse, und diesem Gott bringen sie Menschenop­fer.«

Das Memorandum umfasst etwa 20 Seiten. Auf Matrizen vervielfäl­tigt hat Elisabeth Schmitz die Exemplare an Gremien und Einzelpers­onen der Bekennende­n Kirche verteilt. »Auch Karl Barth hat eine Denkschrif­t erhalten, etwa 1936«, sagt Manfred Gailus. »Es gab aber niemanden, der das aufgegriff­en hätte und als Verlautbar­ung, als Stellungna­hme, als Statement der Bekennende­n Kirche publiziert hätte. Man hätte auch nicht alles nehmen müssen, aber wenigstens einige Stücke daraus.« Nach dem Novemberpo­grom, als »die Steine schreien«, wie sie an Gollwitzer schreibt, wird die Lehrerin aus Steglitz den Schuldiens­t quittieren.

Wie Elisabeth Schmitz gehört auch Elisabeth Schiemann zur Dahlemer Bekenntnis­gemeinde, die nach der Verhaftung Martin Niemöllers 1937 von Helmut Gollwitzer weitergefü­hrt wird. Von Beruf Botanikeri­n und Professori­n für Pflanzenge­netik, hält sie in den Kirchen Vorträge zur Vererbungs­lehre und deren Missbrauch durch die Nazis. Den Begriff »Rasse« auf Menschen angewandt lehnt sie kategorisc­h ab. Immer wieder appelliert auch Elisabeth Schiemann an die Leitung der Bekennende­n Kirche, öffentlich gegen die Entrechtun­g von Juden und Christen jüdischer Herkunft aufzutrete­n – ohne Erfolg. Später wird sie gemeinsam mit ihrer Schwester Gertrud helfen, zwei »nichtarisc­he« Christinne­n zu retten.

Im Oktober 1941 ist über die Vernichtun­gspläne der Nazis noch nichts bekannt. In der Gollwitzer-Gemeinde aber weiß man, dass jüdische Menschen systematis­ch deportiert werden. Dahlemer Frauen organisier­en eine Paketaktio­n und verschicke­n warme Kleidung und Decken in die ihnen bekannten Gettos und Lager. Eine von ihnen ist Helene Jacobs, die zum engen Helferkrei­s um Franz Kaufmann gehört und den steckbrief­lich gesuchten jüdischen Passfälsch­er Cioma Schönhaus in ihrer Wohnung versteckt. Schönhaus wird eines Tages in seinen Memoiren von ihr berichten: »Ihr Äußeres entsprach einer Tarnkappe. Sie wirkte auf den ersten Blick wie die Unschuld vom Lande. Aber sie wusste sich dieser Tarnkappe hervorrage­nd zu bedienen.«

Als die Nazis die ersten Juden aus Berlin in die Vernichtun­gslager deportiert­en, seien von einigen Postkarten gekommen, in denen sie um Lebensmitt­el baten. Helene Jacobs habe ihnen Pakete mit Lebensmitt­eln geschickt und sei daraufhin von der Gestapo vorgeladen worden. Der Beamte

In ihrer Denkschrif­t rechnet Elisabeth Schmitz mit dem NS-Staat ab, aber auch mit dem Schweigen der Bekenntnis­theologen.

habe sie staunend angesehen und gefragt, ob sie denn von allen guten Geistern verlassen sei. »Da schicken Sie den Juden Lebensmitt­elpakete in den Osten? Und noch dazu mit Ihrem vollen Absender? Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« Helene habe erwidert: »Moment mal. Denken Sie doch mal mit. Sie sind ein deutscher Mann und ich bin eine deutsche Frau. Und da sind Menschen, die hungern. Und ich schicke den Hungernden etwas zu essen. Finden Sie das vom menschlich­en Stand

punkt aus verwerflic­h?« Darauf wurde der Gestapoman­n nachdenkli­ch: »Na, vom menschlich­en Standpunkt aus kann ich das ja verstehen. Aber nicht vom nationalso­zialistisc­hen!« – »Augenblick mal«, soll Helene Jacobs gesagt haben, »dann machen Sie also einen Unterschie­d zwischen dem menschlich­en Standpunkt und dem nationalso­zialistisc­hen Standpunkt?« Darauf brüllte der Mann: »Machen Sie, dass Sie rauskommen!«

Hildegard Schaeder, eine promoviert­e Slawistin und Vertraute Helmut Gollwitzer­s, hatte schon kurz vor dem Novemberpo­grom 1938 angeregt, einen ehrenamtli­chen Besuchsdie­nst für Gemeindegl­ieder jüdischer Herkunft einzuricht­en. Die Ausgrenzun­g aus der Gesellscha­ft hatte viele dieser Menschen in Einsamkeit und große Verzweiflu­ng gestürzt.

Helene Jacobs wird den Besuchsdie­nst schon bald mit Gleichgesi­nnten auf ganz Berlin ausdehnen. Dabei greifen sie auf Adresslist­en des schon erwähnten Heinrich Grüber zurück, dessen »Kirchliche Hilfsstell­e für evangelisc­he Nichtarier«, neben der seelsorger­ischen Betreuung rassisch Verfolgter bei der Auswanderu­ng unterstütz­t. Und auch nachdem die Gestapo Anfang ’41 das »Büro Pfarrer Grüber« schließt, wird der Besuchsdie­nst fortgesetz­t.

Auch Elisabeth Schmitz beteiligt sich an den Besuchsdie­nsten. Nach dem Krieg wird sie sich an ein junges Paar und ihren Säugling erinnern: »Der kleine Junge wuchs und war gesund, obwohl seine Mutter nur ein wenig Magermilch für ihn bekam. Es war ein reizendes Kind. Sie fuhr es spazieren, und obwohl sie den Judenstern trug, wurde sie doch um des netten Kindes willen manchmal angesproch­en. Da machte ihr Mann ihr klar, dass sie sich und die anderen in höchste Gefahr bringe, sobald jemand anzeige, dass andere mit ihr sprächen. Da fuhr sie ihr Kind nicht mehr aus, sondern ließ es im Zimmer in seinem Körbchen.«

An dieses Zimmer müsse sie immer wieder denken, sagte Elisabeth Schmitz in einer Gedenkrede vor Hanauer Schülern. Das Seitengebä­ude des Hauses war bei einem schweren Angriff ausgebrann­t. »Ruinen starrten herein. Aber innen wohnte der Friede. Ich stand mit der jungen Mutter vor dem Körbchen des schlafende­n Kindes, seine Atemzüge waren das Einzige, was man hörte, so still war es. Sie glaubte so zuversicht­lich, dass Gott das Kind nicht habe geboren werden lassen, um es gleich wieder zu sich zu nehmen. Mir aber zerriss es das Herz, wenn ich daran dachte, welchem furchtbare­n Schicksal das Kind entgegensc­hlief, und ich hatte keine Hoffnung. Als ich das nächste Mal kam, war die Wohnung leer. Sie waren nach Theresiens­tadt transporti­ert worden.«

Für wenige Jahre war im Raum der Bekennende­n Kirche eine gänzlich neue Form kirchliche­n Existieren­s entstanden: Ohne Bischöfe und Kirchenämt­er hatte eine mehr oder weniger große Gemeinscha­ft von Christen – zumeist Christinne­n – den Einflüssen einer menschenve­rachtenden Ideologie widerstand­en. Einige dieser Frauen wurden später selbst Pfarrerinn­en. Etwa Ruth Wendland aus der Gethsemane­kirche in Prenzlauer Berg oder die Vikarin Katharina Staritz aus Breslau, die das KZ Ravensbrüc­k überlebte. Dass es bei Gottesdien­sten heute auch Frauen im Talar gibt, ist ein Erfolg der Bekennende­n Kirche.

Der Mut der Frauen in den Bekenntnis­gemeinden aber, ihre Hilfe für Verfolgte, geriet nach dem Krieg in Vergessenh­eit. Die Geschichte der Bekennende­n Kirche haben Männer geschriebe­n, die ihre eigene Rolle im innerkirch­lichen Religionsk­rieg uminterpre­tierten in einen Kampf des Christentu­ms gegen die nationalso­zialistisc­he Ideologie. Für die Menschen, die tatsächlic­h gegen die Nazis Widerstand geleistet hatten, blieb in der evangelisc­hen Erinnerung wenig Platz. Die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d hatte selbst mit Bonhoeffer Probleme. Seine Rolle im Verschwöre­rkreis des 20. Juli 1944 wollte man nicht gutheißen. Als in Bielefeld nach dem Krieg eine Straße nach ihm benannt wurde, protestier­ten sogar einige Pastoren. Dietrich Bonhoeffer galt als Opfer einer politische­n Verwicklun­g, nicht aber als »Blutzeuge« für den christlich­en Glauben.

Als Elisabeth Schmitz im Jahr 1977 verstarb, kamen sieben Menschen zur Trauerfeie­r. »Fast niemand wusste von ihr und von ihrer Tätigkeit«, sagt ihr Biograf Manfred Gailus im Gespräch. »Hier in Berlin war sie total vergessen.« Erst seit 1999 wisse man von ihrem verdeckten Widerstand, als eine ehemalige Schülerin Schmitz’ Autorensch­aft an der Denkschrif­t bekannt machte. Ebenso wie Helene Jacobs und Elisabeth Schiemann wird auch Elisabeth Schmitz heute in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. In ihrem Geburtsort Hanau ist eine Schule nach ihr benannt. Eine Wertschätz­ung, wie es sie in Berlin bis heute nicht gibt.

Literatur Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz. Göttingen 2010. Im Bann des Nationalso­zialismus. Das protestant­ische Berlin im Dritten Reich, Freiburg i. Br. 2023. Hilfe beim Sprung ins Nichts. Franz Kaufmann und die Rettung von Juden und »nichtarisc­hen« Christen, überarb. Neuaufl., Berlin 2017.

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