Die Nähstube der Welt
Textilien für wenig Geld kommen aus Bangladesch. Unter welchen Bedingungen sie hergestellt werden, interessierte lange niemanden. Bis ein Hochhaus einstürzte und 1100 Näherinnen starben. Diese Katastrophe hat vieles verändert. Deutsche Politik hat daran i
Dhaka Der Tag, der viel veränderte in Bangladesch, hat für Jesmin früh begonnen. Sie hat Frühstück gemacht für ihren zehnjährigen Sohn und den kleinen Wellblechverschlag gefegt, in dem sie mit dem Kind haust, seit ihr Mann bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Es muss schnell gehen an jenem 24. April 2013, so wie jeden Morgen. Denn wenn sie zu spät zur Arbeit kommt, wird ihr der Lohn gekürzt. Jesmin arbeitet in der Textilfabrik „Phantom“, im dritten Stock des Rana-Plaza-Gebäudes in Sabah, einem Außenbezirk der Hauptstadt Dhaka. Es ist eine der fünf Fabriken in dem Gebäudekomplex, in dem vor allem Kleidung westlicher Marken hergestellt wird.
Die Hemden, die Jesmin in den nächsten zehn, vielleicht auch zwölf Stunden zusammennähen soll, sind aus blaukariertem Baumwollstoff. „Schicke Herrenhemden der Marke Mango“, erzählt die 28-Jährige und knetet verlegen die Hände. Sie legt sich gerade den riesigen Stapel zugeschnittener Stoffteile zurecht, als es plötzlich knackst und kracht und scheppert. Dann hört Jesmin nur noch Schreie. Sie wird mitgerissen von den Menschen, die in Richtung des einen schmalen Treppenhauses stürzen. Panisch, verzweifelt, in Todesangst.
Die meisten der etwa 3600 Textilarbeiter – der Großteil von ihnen Frauen – schaffen es nicht ins Freie, ehe das neunstöckige Gebäude in sich zusammensackt. Jesmin auch nicht. Zwei Tage ist sie unter den schweren Betonteilen verschüttet, bis Helfer sie aus den Trümmern graben. Jesmins Schwester ist bei dem Einsturz gestorben. Die Leiche ihres Neffen wird zwischen den Betonbrocken nie gefunden.
Jesmin hebt den linken Arm, zeigt die lange Narbe, die sich über den Handrücken zieht. Sie erzählt von ihrem verletzten Rücken und dem rechten Bein, auf dem sie bis heute nicht richtig stehen kann. Ihre Reha – und die von 514 weiteren Opfern – hat Deutschland bezahlt. Die Krücken, die die junge Frau seither braucht, hat sie an die grüngestrichene Wand des Frauencafés gelehnt – einem von 21 Treffpunkten für Textilarbeiterinnen, die mit deutschen Geldern nach der RanaPlaza-Katastrophe in ganz Bangladesch eingerichtet wurden. Dort lernen die Näherinnen anhand von bunten Plakaten und mit Hilfe eines Brettspiels ihre Rechte. Denn die meisten von ihnen können weder lesen noch schreiben, sind vom Land nach Dhaka gekommen, um zu überleben. Sie erfahren, dass ihre Vorgesetzen sie nicht schlagen dürfen, dass sich in den vergangenen Monaten schon fast 400 Betriebsräte gegründet haben und dass es neuerdings 300 unabhängige Inspektoren gibt, die die Sicherheit in den Fabriken überprüfen.
Inzwischen wurde auch ein Mindestlohn für Näherinnen eingeführt, der bei etwa 53 Euro im Monat liegt. Das ist – gemessen an den Lebenshaltungskosten im Land – gar nicht so schlecht. Ein Arbeiter in einer Ziegelei, der den ganzen Tag Kohle in den Brennofen schaufelt, verdient noch nicht einmal die Hälfte.
„Rana Plaza war der Wendepunkt, da sind wir aufgewacht“, sagt Tofail Ahmed, der Handelsminister des bitterarmen Landes, das nach China der zweitgrößte Textilund Bekleidungshersteller weltweit ist. Für 25 Milliarden Dollar (etwa 22 Milliarden Euro) im Jahr exportiert „die Nähstube der Welt“, wie Bangladesch oft genannt wird, Textilien – Kleider, Hemden und Hosen von Luxusmarken ebenso wie Millionen von Billig-T-Shirts der Discounter. 60 Prozent der Textilien gehen nach Europa, 20 Prozent in die USA. Bis 2021, sagt Premierministerin Sheikh Hasina, will man diese Summe verdoppeln. Bangladesch lebt von der Textilindustrie, sie ist eine große Chance für das bevölkerungsreiche Land.
Doch noch schuften fast vier Millionen Menschen – 80 Prozent davon Frauen – unter unmenschlichen Bedingungen, in engen, vergitterten Hallen, ohne Tageslicht, in brütend heißen Hinterzimmern. Zu Bedingungen also, gegen die sich die Textilarbeiter in Deutschland schon im 19. Jahrhundert wehrten. Dafür bekamen sie vor Einführung des Mindestlohns oft nur 35 Euro im Monat, mit denen man auch in Bangladesch kaum überleben kann – für bis zu 14 Stunden Arbeit am Tag, sieben Tage die Woche. Ohne Urlaub, ohne Krankenversicherung, ohne Kündigungsschutz. Immer wieder kam es zu Bränden und tödlichen Unglücken in den Textilfabriken. Doch erst seit der Rana-Plaza-Katastrophe reagiert die Welt.
Jetzt ist das zusammengestürzte Gebäude ein Symbol für Ausbeutung, Profitgier, Korruption, Unmenschlichkeit. Denn der Besitzer Sohel Rana, der drei ungenehmigte Stockwerke auf das Haus baute, um noch mehr zu verdienen, wusste von den Statikproblemen. „Wir alle wussten davon und haben immer wieder gewarnt, sind aber nicht gehört worden“, sagt Näherin Jesmin. Am Morgen vor dem Fabrikeinsturz bekam sie einen Anruf von ihrem Chef. Sie müsse zur Arbeit kommen, hat er gesagt – obwohl am Tag zuvor Inspektoren gefährliche Risse im Mauerwerk festgestellt hatten.
„Ein zweites Rana Plaza darf es nicht mehr geben“, sagt Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Und: „Wir können nicht akzeptieren, dass diejenigen, die unsere Kleidung herstellen, unter Bedingungen arbeiten, die wir in Deutschland nie zulassen würden.“Vor knapp einem Jahr hat der Allgäuer Politiker ein Textilbündnis ins Leben gerufen, um die Arbeitsund Lebensbedingungen der Näherinnen in Afrika und Asien zu verbessern. „Da haben wir eine Verantwortung“, sagt Müller.
Inzwischen hat das Bündnis 160 Mitglieder, fast die Hälfte der deutschen Textilunternehmer sind beigetreten. Als nächsten Schritt kündigt Müller ein Textilsiegel an, den „grünen Knopf“. Mit ihm soll der Käufer sofort erkennen, ob seine Hose oder das Hemd unter anständigen sozialen und ökologischen Standards hergestellt worden ist. Müller ist nach Bangladesch gereist, um sich die Arbeitsbedingungen der Näherinnen anzuschauen. Und um zu sehen, was das deutsche Engagement in dem Entwicklungsland bewirkt hat. Deutschland hat Bangladesch für 2014 und 2015 insgesamt 234 Millionen Euro zugesagt.
An diesem Nachmittag steht der Minister hemdsärmelig bei fast 40 Grad Hitze auf dem Hof des Jinnat Komplexes in Gazipur, wo die DBL Group die größte Textilfabrik des Landes betreibt. Eine holprige Schlammstraße führt von Dhaka nach Gazipur. Armut säumt den Weg: Wellblechhütten ohne Strom, Fischhändler, auf deren magerem Angebot sich die Fliegen tummeln. Man kommt nur im Schritttempo voran. Vor allem dann, wenn ein Lkw entgegenkommt, der einen Container voller Kleidungsstücke geladen hat. Vom Hafen in Chittagong aus werden sie auf den Weg in die deutschen Geschäfte geschickt. 20450 Mitarbeiter nähen in den Fabriken der DBL Group unter anderem für H&M und Lidl, für Bonita, C&A oder Gerry Weber. Sie ist das erste Unternehmen in Bangladesch, das dem deutschen Textilbündnis beigetreten ist. „Pessimisten haben gesagt, so ein Bündnis wird nie funktionieren“, erzählt Müller, „schon gar nicht in Bangladesch“.
Müller ist begeistert von dem, was Direktor Abdul Jabbar ihm zeigt. Er plaudert mit den Näherinnen, fragt sie nach den Arbeitszeiten, dem Lohn und ob sie zufrieden sind mit den Arbeitsbedingungen. Es ist eng in den Produktionshallen des neunstöckigen Gebäudes, das schon. Auf jedem Stockwerk rattern 500 Nähmaschinen, die ordentlich hintereinander aufgereiht sind. Nur an den Bügelbrettern, wo die Kleidungsstücke nach dem Nähen die Form bekommen, stehen Männer. „Das ist harte Arbeit“, sagt Jabbar, „zu hart für Frauen.“
Die Näherinnen tragen Mundschutz und gelbe Kopftücher gegen den Textilstaub. Auf dem Boden sind die Fluchtwege markiert, an der Decke hängen Rauchmelder, vor der Tür stehen Feuerlöscher. Es gibt eine fabrikeigene Feuerwache mit einem neuen Löschfahrzeug – finanziert mit deutschem Geld. In einem kleinen Laden können die Textilarbeiter Lebensmittel zu günstigeren Preisen einkaufen. Für die Kinder der Näherinnen gibt es eine Kinderkrippe und in der Krankenstation werden die Mitarbeiter und die Bewohner der umliegenden Dörfer kostenlos behandelt.
Eins aber gibt es nicht: Billigstpreise. Ein T-Shirt für einen Euro, sagt der Chef Jabbar, kann er nicht herstellen. Zwischen vier und sieben Euro muss der Einkäufer aus Deutschland für ein Shirt von Puma, Esprit oder G-Star hier auf den Tisch legen, das dann für 30, 50 oder 70 Euro im Laden hängt. DBL ist natürlich ein Vorzeigeunternehmen. Und ganz sicher noch eine Ausnahme. „Ein Leuchtturm, den
Der Mindestlohn liegt bei 53 Euro im Monat Ein „grüner Knopf“als Siegel für faire Produktion
sich hoffentlich viele Fabriken zum Vorbild nehmen“, sagt Müller.
Wie viele Textilfabriken es im Land gibt, weiß keiner. 3500 bis 6000, heißt es. Denn registriert sind nur die 3500 Unternehmen, die für den Export produzieren. Alle übrigen, die die Mode für die 160 Millionen Menschen in Bangladesch herstellen und als Subunternehmer den großen Fabriken zuliefern, kontrolliert keiner. Dort schuften die Frauen weiterhin wie Sklaven. Dort wird es weiterhin zu Unfällen kommen – und zu Toten, von denen nie jemand erfährt. Weil ungelernte Arbeiter Schlange stehen. Und weil die Textilindustrie der einzige Bereich ist, der Frauen eine Arbeit bietet.
Jesmin aus dem Rana-Plaza-Gebäude will nie mehr eine Textilfabrik betreten, sagt sie. Sie hat einen kleinen Lebensmittelladen eröffnet. Von den 500 Euro, die sie aus dem Entschädigungsfonds bekommen hat, in den viele internationale Textilfirmen 30 Millionen Dollar (rund 27 Millionen Euro) einbezahlt haben. Bis Ende Oktober soll das Geld an die Opfer von Rana Plaza verteilt sein – zweieinhalb Jahre nach dem Unglück, das viel verändert hat in Bangladesch.