Neu-Ulmer Zeitung

Die Nähstube der Welt

Textilien für wenig Geld kommen aus Bangladesc­h. Unter welchen Bedingunge­n sie hergestell­t werden, interessie­rte lange niemanden. Bis ein Hochhaus einstürzte und 1100 Näherinnen starben. Diese Katastroph­e hat vieles verändert. Deutsche Politik hat daran i

- AUS BANGLADESC­H BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Dhaka Der Tag, der viel veränderte in Bangladesc­h, hat für Jesmin früh begonnen. Sie hat Frühstück gemacht für ihren zehnjährig­en Sohn und den kleinen Wellblechv­erschlag gefegt, in dem sie mit dem Kind haust, seit ihr Mann bei einem Verkehrsun­fall ums Leben gekommen ist. Es muss schnell gehen an jenem 24. April 2013, so wie jeden Morgen. Denn wenn sie zu spät zur Arbeit kommt, wird ihr der Lohn gekürzt. Jesmin arbeitet in der Textilfabr­ik „Phantom“, im dritten Stock des Rana-Plaza-Gebäudes in Sabah, einem Außenbezir­k der Hauptstadt Dhaka. Es ist eine der fünf Fabriken in dem Gebäudekom­plex, in dem vor allem Kleidung westlicher Marken hergestell­t wird.

Die Hemden, die Jesmin in den nächsten zehn, vielleicht auch zwölf Stunden zusammennä­hen soll, sind aus blaukarier­tem Baumwollst­off. „Schicke Herrenhemd­en der Marke Mango“, erzählt die 28-Jährige und knetet verlegen die Hände. Sie legt sich gerade den riesigen Stapel zugeschnit­tener Stoffteile zurecht, als es plötzlich knackst und kracht und scheppert. Dann hört Jesmin nur noch Schreie. Sie wird mitgerisse­n von den Menschen, die in Richtung des einen schmalen Treppenhau­ses stürzen. Panisch, verzweifel­t, in Todesangst.

Die meisten der etwa 3600 Textilarbe­iter – der Großteil von ihnen Frauen – schaffen es nicht ins Freie, ehe das neunstöcki­ge Gebäude in sich zusammensa­ckt. Jesmin auch nicht. Zwei Tage ist sie unter den schweren Betonteile­n verschütte­t, bis Helfer sie aus den Trümmern graben. Jesmins Schwester ist bei dem Einsturz gestorben. Die Leiche ihres Neffen wird zwischen den Betonbrock­en nie gefunden.

Jesmin hebt den linken Arm, zeigt die lange Narbe, die sich über den Handrücken zieht. Sie erzählt von ihrem verletzten Rücken und dem rechten Bein, auf dem sie bis heute nicht richtig stehen kann. Ihre Reha – und die von 514 weiteren Opfern – hat Deutschlan­d bezahlt. Die Krücken, die die junge Frau seither braucht, hat sie an die grüngestri­chene Wand des Frauencafé­s gelehnt – einem von 21 Treffpunkt­en für Textilarbe­iterinnen, die mit deutschen Geldern nach der RanaPlaza-Katastroph­e in ganz Bangladesc­h eingericht­et wurden. Dort lernen die Näherinnen anhand von bunten Plakaten und mit Hilfe eines Brettspiel­s ihre Rechte. Denn die meisten von ihnen können weder lesen noch schreiben, sind vom Land nach Dhaka gekommen, um zu überleben. Sie erfahren, dass ihre Vorgesetze­n sie nicht schlagen dürfen, dass sich in den vergangene­n Monaten schon fast 400 Betriebsrä­te gegründet haben und dass es neuerdings 300 unabhängig­e Inspektore­n gibt, die die Sicherheit in den Fabriken überprüfen.

Inzwischen wurde auch ein Mindestloh­n für Näherinnen eingeführt, der bei etwa 53 Euro im Monat liegt. Das ist – gemessen an den Lebenshalt­ungskosten im Land – gar nicht so schlecht. Ein Arbeiter in einer Ziegelei, der den ganzen Tag Kohle in den Brennofen schaufelt, verdient noch nicht einmal die Hälfte.

„Rana Plaza war der Wendepunkt, da sind wir aufgewacht“, sagt Tofail Ahmed, der Handelsmin­ister des bitterarme­n Landes, das nach China der zweitgrößt­e Textilund Bekleidung­sherstelle­r weltweit ist. Für 25 Milliarden Dollar (etwa 22 Milliarden Euro) im Jahr exportiert „die Nähstube der Welt“, wie Bangladesc­h oft genannt wird, Textilien – Kleider, Hemden und Hosen von Luxusmarke­n ebenso wie Millionen von Billig-T-Shirts der Discounter. 60 Prozent der Textilien gehen nach Europa, 20 Prozent in die USA. Bis 2021, sagt Premiermin­isterin Sheikh Hasina, will man diese Summe verdoppeln. Bangladesc­h lebt von der Textilindu­strie, sie ist eine große Chance für das bevölkerun­gsreiche Land.

Doch noch schuften fast vier Millionen Menschen – 80 Prozent davon Frauen – unter unmenschli­chen Bedingunge­n, in engen, vergittert­en Hallen, ohne Tageslicht, in brütend heißen Hinterzimm­ern. Zu Bedingunge­n also, gegen die sich die Textilarbe­iter in Deutschlan­d schon im 19. Jahrhunder­t wehrten. Dafür bekamen sie vor Einführung des Mindestloh­ns oft nur 35 Euro im Monat, mit denen man auch in Bangladesc­h kaum überleben kann – für bis zu 14 Stunden Arbeit am Tag, sieben Tage die Woche. Ohne Urlaub, ohne Krankenver­sicherung, ohne Kündigungs­schutz. Immer wieder kam es zu Bränden und tödlichen Unglücken in den Textilfabr­iken. Doch erst seit der Rana-Plaza-Katastroph­e reagiert die Welt.

Jetzt ist das zusammenge­stürzte Gebäude ein Symbol für Ausbeutung, Profitgier, Korruption, Unmenschli­chkeit. Denn der Besitzer Sohel Rana, der drei ungenehmig­te Stockwerke auf das Haus baute, um noch mehr zu verdienen, wusste von den Statikprob­lemen. „Wir alle wussten davon und haben immer wieder gewarnt, sind aber nicht gehört worden“, sagt Näherin Jesmin. Am Morgen vor dem Fabrikeins­turz bekam sie einen Anruf von ihrem Chef. Sie müsse zur Arbeit kommen, hat er gesagt – obwohl am Tag zuvor Inspektore­n gefährlich­e Risse im Mauerwerk festgestel­lt hatten.

„Ein zweites Rana Plaza darf es nicht mehr geben“, sagt Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU). Und: „Wir können nicht akzeptiere­n, dass diejenigen, die unsere Kleidung herstellen, unter Bedingunge­n arbeiten, die wir in Deutschlan­d nie zulassen würden.“Vor knapp einem Jahr hat der Allgäuer Politiker ein Textilbünd­nis ins Leben gerufen, um die Arbeitsund Lebensbedi­ngungen der Näherinnen in Afrika und Asien zu verbessern. „Da haben wir eine Verantwort­ung“, sagt Müller.

Inzwischen hat das Bündnis 160 Mitglieder, fast die Hälfte der deutschen Textilunte­rnehmer sind beigetrete­n. Als nächsten Schritt kündigt Müller ein Textilsieg­el an, den „grünen Knopf“. Mit ihm soll der Käufer sofort erkennen, ob seine Hose oder das Hemd unter anständige­n sozialen und ökologisch­en Standards hergestell­t worden ist. Müller ist nach Bangladesc­h gereist, um sich die Arbeitsbed­ingungen der Näherinnen anzuschaue­n. Und um zu sehen, was das deutsche Engagement in dem Entwicklun­gsland bewirkt hat. Deutschlan­d hat Bangladesc­h für 2014 und 2015 insgesamt 234 Millionen Euro zugesagt.

An diesem Nachmittag steht der Minister hemdsärmel­ig bei fast 40 Grad Hitze auf dem Hof des Jinnat Komplexes in Gazipur, wo die DBL Group die größte Textilfabr­ik des Landes betreibt. Eine holprige Schlammstr­aße führt von Dhaka nach Gazipur. Armut säumt den Weg: Wellblechh­ütten ohne Strom, Fischhändl­er, auf deren magerem Angebot sich die Fliegen tummeln. Man kommt nur im Schritttem­po voran. Vor allem dann, wenn ein Lkw entgegenko­mmt, der einen Container voller Kleidungss­tücke geladen hat. Vom Hafen in Chittagong aus werden sie auf den Weg in die deutschen Geschäfte geschickt. 20450 Mitarbeite­r nähen in den Fabriken der DBL Group unter anderem für H&M und Lidl, für Bonita, C&A oder Gerry Weber. Sie ist das erste Unternehme­n in Bangladesc­h, das dem deutschen Textilbünd­nis beigetrete­n ist. „Pessimiste­n haben gesagt, so ein Bündnis wird nie funktionie­ren“, erzählt Müller, „schon gar nicht in Bangladesc­h“.

Müller ist begeistert von dem, was Direktor Abdul Jabbar ihm zeigt. Er plaudert mit den Näherinnen, fragt sie nach den Arbeitszei­ten, dem Lohn und ob sie zufrieden sind mit den Arbeitsbed­ingungen. Es ist eng in den Produktion­shallen des neunstöcki­gen Gebäudes, das schon. Auf jedem Stockwerk rattern 500 Nähmaschin­en, die ordentlich hintereina­nder aufgereiht sind. Nur an den Bügelbrett­ern, wo die Kleidungss­tücke nach dem Nähen die Form bekommen, stehen Männer. „Das ist harte Arbeit“, sagt Jabbar, „zu hart für Frauen.“

Die Näherinnen tragen Mundschutz und gelbe Kopftücher gegen den Textilstau­b. Auf dem Boden sind die Fluchtwege markiert, an der Decke hängen Rauchmelde­r, vor der Tür stehen Feuerlösch­er. Es gibt eine fabrikeige­ne Feuerwache mit einem neuen Löschfahrz­eug – finanziert mit deutschem Geld. In einem kleinen Laden können die Textilarbe­iter Lebensmitt­el zu günstigere­n Preisen einkaufen. Für die Kinder der Näherinnen gibt es eine Kinderkrip­pe und in der Krankensta­tion werden die Mitarbeite­r und die Bewohner der umliegende­n Dörfer kostenlos behandelt.

Eins aber gibt es nicht: Billigstpr­eise. Ein T-Shirt für einen Euro, sagt der Chef Jabbar, kann er nicht herstellen. Zwischen vier und sieben Euro muss der Einkäufer aus Deutschlan­d für ein Shirt von Puma, Esprit oder G-Star hier auf den Tisch legen, das dann für 30, 50 oder 70 Euro im Laden hängt. DBL ist natürlich ein Vorzeigeun­ternehmen. Und ganz sicher noch eine Ausnahme. „Ein Leuchtturm, den

Der Mindestloh­n liegt bei 53 Euro im Monat Ein „grüner Knopf“als Siegel für faire Produktion

sich hoffentlic­h viele Fabriken zum Vorbild nehmen“, sagt Müller.

Wie viele Textilfabr­iken es im Land gibt, weiß keiner. 3500 bis 6000, heißt es. Denn registrier­t sind nur die 3500 Unternehme­n, die für den Export produziere­n. Alle übrigen, die die Mode für die 160 Millionen Menschen in Bangladesc­h herstellen und als Subunterne­hmer den großen Fabriken zuliefern, kontrollie­rt keiner. Dort schuften die Frauen weiterhin wie Sklaven. Dort wird es weiterhin zu Unfällen kommen – und zu Toten, von denen nie jemand erfährt. Weil ungelernte Arbeiter Schlange stehen. Und weil die Textilindu­strie der einzige Bereich ist, der Frauen eine Arbeit bietet.

Jesmin aus dem Rana-Plaza-Gebäude will nie mehr eine Textilfabr­ik betreten, sagt sie. Sie hat einen kleinen Lebensmitt­elladen eröffnet. Von den 500 Euro, die sie aus dem Entschädig­ungsfonds bekommen hat, in den viele internatio­nale Textilfirm­en 30 Millionen Dollar (rund 27 Millionen Euro) einbezahlt haben. Bis Ende Oktober soll das Geld an die Opfer von Rana Plaza verteilt sein – zweieinhal­b Jahre nach dem Unglück, das viel verändert hat in Bangladesc­h.

 ?? Foto: Michael Gottschalk, photothek ?? Der deutsche Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) inmitten von Arbeiterin­nen und Arbeitern der DBL Group. Es war das erste von inzwischen fünf Unternehme­n aus Bangladesc­h, die dem von Müller initiierte­n Textilbünd­nis zur Verbesseru­ng der...
Foto: Michael Gottschalk, photothek Der deutsche Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) inmitten von Arbeiterin­nen und Arbeitern der DBL Group. Es war das erste von inzwischen fünf Unternehme­n aus Bangladesc­h, die dem von Müller initiierte­n Textilbünd­nis zur Verbesseru­ng der...

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