Wir sind voller Hass und Vorurteile
Die ersten Zeilen von Swetlana Alexijewitschs Buch „Secondhand-Zeit“
Wir nehmen Abschied von der Sowjetzeit. Von unserem damaligen Leben. Ich versuche, alle Beteiligten am sozialistischen Drama, mit denen ich mich treffe, fair anzuhören…
Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den „alten“Menschen umzumodeln, den alten Adam. Und das ist gelungen … es ist vielleicht das Einzige, das gelungen ist. In den etwas über siebzig Jahren ist im Laboratorium des Marxismus-Leninismus ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo so- vieticus. Die einen betrachten ihn als tragische Gestalt, die anderen nennen ihn „Sowok“. Ich glaube, ich kenne diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich habe viele Jahre Seite an Seite mit ihm gelebt. Er ist ich. Das sind meine Bekannten, meine Freunde, meine Eltern. Ich bin mehrere Jahre durch die ganze ehemalige Sowjetunion gereist, denn der Homo sovieticus, das sind nicht nur Russen, das sind auch Weißrussen, Turkmenen, Ukrainer, Kasachen … Heute leben wir in verschiedenen Staaten, sprechen verschiede- ne Sprachen, aber wir sind unverwechselbar. Man erkennt uns auf Anhieb! Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod. In den Erzählungen der Menschen, die ich aufschreibe, klingen mir immer wieder Wörter in den Ohren wie: „schießen“, „erschießen“, „liquidieren“, „aus dem Weg räumen“ oder sowjetische Varianten des Verschwindens wie „Verhaftung“, „zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“, „Emigration“. Wie viel kann ein Menschenleben wert sein, wenn man bedenkt, dass vor kurzem Millionen umgekommen sind? Wir sind voller Hass und Vorurteile…
(Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus; aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, © 2013 Hanser Berlin im Carl-Hanser-Verlag München)